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BACHMANN Auf der Schaukel

aus DER SPIEGEL 31/1961

Eine erste Ankündigung gab es bereits vor Jahren, aber noch auf der Frankfurter Buchmesse des vergangenen Herbstes ging der Scherz um: »Sie wird mit dem Dreißigsten Jahr wohl in ihr vierzigstes gehen.«

Die Anspielungen auf Alter und Arbeitstempo der vierfach preisgekrönten österreichischen Lyrikerin Ingeborg Bachmann ("Die gestundete Zeit«, »Anrufung des großen Bären") waren voreilig. Bereits zu ihrem 35. Geburtstag in diesem Sommer lag der erste Prosaband der Bachmann, »Das dreißigste Jahr"*, in den Buchhandlungen aus. Sehr emphatisch lobte »Die Welt": »Ein neuer Ton in der deutschen Literatur«. Und: »Nur wer des Lebens unkundig ist und sich nie bewußt wurde, wie gefährdet es in jedem Augenblick ist, wird diese Erzählungen nicht verstehen.«

Ob die Bachmann-Leser wirklich lebenskundig sein müssen, um die Bachmann-Prosa zu verstehen, oder ob nicht - in jedem Fall können sie in den Erzählungen einige der Lebensumstände der (1926 in Klagenfurt geborenen) Schriftstellerin rekapitulieren: Die Texte, die in dem Band »Das dreißigste Jahr« zusammengefaßt sind, haben deutlich auch autobiographische Momente.

Das wird besonders evident in der Erzählung, die dem Buch den Titel gegeben hat. Obwohl der Held, der abwechselnd in der Ich-Form oder als »er« von sich spricht, ein Mann ist, läßt sich sein Monolog unschwer als eine Art Selbstgespräch der Autorin mit ihrem Leben und über ihr Leben ausmachen. Schwerpunkt der Rückerinnerung des Helden, der in seinem dreißigsten Jahr in eine Krise gerät, ist das Philosophie-Studium in Wien - wo Ingeborg Bachmann mit einer Arbeit über »Die kritische Aufnahme der Existentialphilosophie Martin Heideggers« promovierte.

Der bald Dreißigjährige erinnert sich an ein Erlebnis im Lesesaal der Wiener Nationalbibliothek, in dem er im schmalen Lichtkreis der kleinen grünen Lampe saß: »Und als er dachte und dachte und wie auf einer Schaukel hoch und höher flog, ohne Schwindelgefühl, und als er sich den herrlichsten Schwung gab, da fühlte er sich gegen eine Decke fliegen, durch die er oben durchstoßen mußte. Ein Glücksgefühl wie nie zuvor hatte ihn erfaßt, weil er in diesem Augenblick daran war, etwas, das sich auf alles und aufs Letzte bezog, zu begreifen.«

Er kommt dann doch nicht durch die Decke. Ohnmächtig, getroffen von Schmerz, springt er ab: »Er wurde vernichtet als möglicher Mitwisser, und von nun an würde er nie wieder so hoch steigen und an die Logik rühren können, an die die Welt gehängt ist.«

Mit dem Sturz von der Schaukel der Erkenntnis in das »Gefängnis« der gottlosen Welt - gottlos: »Denn hätte er mit dieser Welt hier etwas zu tun, mit dieser Sprache, so wäre er kein Gott« - assoziiert der Dreißigjährige ein ziemlich schlimmes Liebesabenteuer mit drei Mädchen in einer Skihütte, und schon beim nächsten Gedanken stellt er sich vor, wie es wäre, »wenn endlich endlich kommt« und er die »alte schimpfliche Ordnung« einreißen könnte.

Das schwierige, erinnerungsträchtige, erkenntniswütige dreißigste Jahr übersteht der Erzähler - wie ehedem die (damals noch nicht dreißigjährige) Autorin Bachmann - größtenteils in Rom, kehrt aber im Strudel der schlimmsten Depression nach Wien zurück, in diese »Stadt ohne Gewähr«, in die »Strandgutstadt«, »Barrikadenstadt«, »Türkenmondstadt«, »Endstadt« und »Peststadt mit dem Todesgeruch«.

Die Haßliebe der ehemals Wiener Studentin und Redakteurin Bachmann zu der Stadt, »in der meine Ängste und Hoffnungen aus so vielen Jahren ins Netz gingen«, dokumentiert sich auch in der ironisch-pointierten Beschreibung der Wiener Kulturprominenz.

Auf die Wiener Theaterkritik zielt die Österreicherin Bachmann den Satz: »Für eine Pointe wird eine Wahrheit geopfert, und gut gesagt ist halb gelogen.« Die Lyrikerin Bachmann gebot sich einst: »Es gilt mit dem Nachklang im Mund weiterzugehen und zu schweigen.« Ihr ins Männliche transponiertes Erzähler-Ich definiert sich als »zum Schweigen gebrachtes Ich aus Schweigen«.

Wenig schmeichelhaft für Wien klingt auch die Erzählung »Unter Mördern und Irren«; sie schildert eine Stammtischrunde in Wien, »mehr als zehn Jahre nach dem Krieg«. Ein Teilnehmer, Abteilungsleiter »am Radio«, ist offenbar eine Reminiszenz der Bachmann an ihre Redakteurszeit am österreichischen Sender Rot-Weiß-Rot; ein anderer ist Feuilletonchef beim »Tagblatt«, ein dritter verdient seinen Wein, trotz prominenter nazistischer Vergangenheit, als Professor an der Universität Wien. Auch ein in Wien wohlgeduldeter Millionär und Kunstmäzen ist mit den Gumpoldskirchner und burgenländischen Wein trinkenden Männern »unterwegs zu sich«.

Ingeborg Bachmann über die Männer: »Wenn sie zwecklos reden, sind sie auf ihrer eigenen Spur.«

Der Ich-Erzähler freilich fühlt sich nicht recht behaglich in dieser »Welt aus Eulenspiegeleien, Mutproben, Heroismus, Gehorsam und Ungehorsam«; mit seinem betrunkenen Freund begibt er sich auf die Toilette, während die Kriegserzählungen der Saufkumpane sehr ins Detail gehen. Zum Schluß wird die »jämmerliche Einträchtigkeit« dieser Runde ganz gesprengt; ein Fremder kommt an den Tisch, spricht von seiner Mörder-Bestimmung und bringt sich selbst um. Im Nebenzimmer des Weinlokals ist das Kameradschaftstreffen der Narvik-Kämpfer unterdessen bei dem Lied »Heimat, deine Sterne« angelangt.

Die Männerwelt, in die sich die als schüchtern und zurückgezogen bekannte First Lady der jungen deutschsprachigen Dichtergeneration mit ihrem Prosa-Erstling begibt, endet nicht immer beim Gumpoldskirchner Wein. So macht die Erzählung »Alles« durchaus generellen Anspruch: Ein Vater scheitert an seinem Kind, aus dem er den »ersten Menschen« machen will und dem er doch erst »Alles« geben kann, als es tot ist. Das Patriarchat versagt. Und Charlotte, die Frau, die sich (in der Erzählung »Ein Schritt nach Gomorrha") aus einer konventionellen Ehe in eine lesbische Gemeinsamkeit flüchtet, überlegt, während die liebebedürftige Mara vor ihr kniet: »Dieses Geschlecht war niemals festgelegt. Es gab Möglichkeiten.«

Die Möglichkeit der Ehe ist für die Autorin Bachmann durchaus der Diskussion wert. In fünf von den insgesamt sieben Erzählungen steht die Ehe direkt oder indirekt im Mittelpunkt des Konflikts, im Mittelpunkt auch der jeweiligen Selbstgespräche. Der Titelheld einer Erzählung, der Oberlandesgerichtsrat Anton Wildermuth, der an seinem oberflächlichen Wahrheitsfanatismus zugrunde geht, sinniert über seine Ehe: »... Daß wir beide nicht wüten gegen diese gute glückliche Verbindung, in der unsere Körper abstumpfen, verdorren ... Zu unseren Körpern, zu dem, was unsere Körper unter Liebe verstanden, fällt uns beiden nichts mehr ein.«

Der Ehemann und Vater aus »Alles« betrügt seine Frau mit einer Verkäuferin aus der Wiener Maria-Hilfer-Straße, denn er ist »auf der Suche nach Selbstbefriedigung, nach der lichtscheuen, verpönten Befreiung von der Frau und dem Geschlecht«. Und während die redseligen Teilnehmer der Stammtischrunde trinken, hängt der Erzähler auch einige Gedanken an die »Frauen zu Hause«, denn: »Mit den Gefühlen des Opfers lagen die Frauen da, mit aufgerissenen Augen in der Dunkelheit, voll Verzweiflung und Bosheit.« Ihre nächtlichen Rechnungen gehen erst auf, wenn sie ihre Männer im Traum ermorden.

»Ihr Ungeheuer mit euren Frauen!« ruft auch die Bachmannsche »Undine« in ihrer Anklagerede gegen die Menschheit aus. Undine faßt offenbar in ihrem Monolog zusammen, was Ingeborg Bachmann in Gedichten, Hörspielen und Artikeln je an der Welt auszusetzen hatte.

Lobenswert findet Undine am Menschen höchstenfalls noch seinen Verzicht auf die ganze Wahrheit - »damit die halbe gesagt wird, damit Licht auf die eine Hälfte der Welt fällt, die ihr gerade noch wahrnehmen könnt in eurem Eifer« -, und außerdem: »Zu loben sind eure Hände, wenn ihr zerbrechliche Dinge in die Hand nehmt ... », allenfalls auch beim Umgang mit der Technik, »wenn ihr euch über Motoren und Maschinen beugt, sie macht und versteht und erklärt, bis vor lauter Erklärungen wieder ein Geheimnis daraus geworden ist«.

Was Undine den Menschen beim Umgang mit Maschinen nachsagt - daß sie vor lauter Erklärungen neue Geheimnisse schaffen -, gilt mutatis mutandis auch für die Prosa der Bachmann.

Theoretisch hatte Ingeborg Bachmann als Dozentin für Poetik gefordert: »Dichtung muß sein wie trockenes Brot, das zwischen den Zähnen knirscht.«

* Ingeborg Bachmann: »Das dreißigste Jahr«. R. Piper Verlag, München; 248 Seiten; 15,80 Mark.

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