LITERATUR Auf der Suche nach dem Selbst
Das Lügen sei seine zweite, »nein, meine erste Natur«, prahlt der Erzähler gleich am Anfang. »Ich habe mein ganzes Leben lang gelogen.« Lügen seien »das Beinahe-Anagramm des Lebens«. Was darf man dem greisen Polterkopf Axel Vander überhaupt glauben? Vielleicht noch, dass er ein weltbekannter Literaturtheoretiker ist. Vielleicht, dass ihn der Brief einer Unbekannten erreicht, die behauptet, sein Geheimnis zu kennen - jene Urlüge seiner Jugend, der alle anderen folgten. Doch alles, was folgt, könnte auch nur der Traum eines delirierenden alten Mannes sein, der sich seiner Vergangenheit stellen will: die Reise in die Nietzsche-Stadt Turin, wohin er die junge Briefschreiberin Cass bestellt; die Affäre, die sich zwischen ihnen entspinnt; die wahnhaften Zwischenfälle und schließlich Cass'' Tod. Mit sprachlicher und gedanklicher Eleganz entwirft der irische Romancier John Banville, 58, in »Caliban« ein Porträt in der Konditionalform: Axel Vander, möglicherweise. Sein Held ist angelehnt an den Literaturtheoretiker Paul de Man, von dem nach seinem Tod bekannt wurde, dass er als junger Mann im besetzten Belgien kollaborative Artikel verfasst hatte - de Mans Werk erschien vielen daraufhin als Versuch, mit der Abschaffung des Autors als allwissender, gottgleicher Instanz die eigene Lebensschuld zu leugnen. Doch Banville macht es komplizierter. Um sein Leben zu retten, hat der Held des Romans, ein Jude, einst die Identität eines toten Freundes angenommen, des Nazi-Kollaborateurs Axel Vander. Dessen Aufsätze drohen ihm nun zum Verhängnis zu werden. Man kann Banvilles brillant übersetzten Roman als Hütchenspiel mit Fragen der Identität, Autorenschaft, Lüge und Wahrheit verstehen, als Reflexion, die de Mans Theorien auf den Prüfstand stellt. Aber »Caliban« ist auch die Charakterstudie eines Mannes auf der Suche nach dem Selbst. Die Theorie ist, am Ende, dem menschlichen Wesen doch nicht gewachsen.
John Banville: »Caliban«. Aus dem Englischen von ChristaSchuenke. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln; 384 Seiten; 22,90Euro.