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»Auf lange Sicht hilft nur Helmpflicht«

SPIEGEL-Reporter Rolf Kunkel über Skiunfälle in den Alpen
aus DER SPIEGEL 9/1983

Die Neuankömmlinge werden mit fröhlichem Hallo begrüßt. Dann dürfen sie sich in die bald 50 Meter lange Schlange der Wartenden einreihen. Man fachsimpelt, wurstelt geschäftig an der klobigen Montur, schimpft über die Wartezeit und die teuren Liftkarten. Es ist neun Uhr morgens: Rush-hour vor der Horn-Bergbahn im österreichischen Kitzbühel, einem der Haupttrampelpfade für Skitouristen.

Von weitem wirken die vermummten Gestalten wie der Außendienst an der »Mondbasis Alpha«. Die Sportartikelindustrie hat ihnen Schuhe verpaßt, so groß wie Hundehütten. Wenn sie mit klumpfüßigem Gang beim Öffnen der Tür schubweise in die Seilbahnkabine vordringen, hört sich das an, als geriete eine Herde schwerfälliger Ackergäule in Bewegung. Alle fünf Minuten wird eine Hundertschaft in die Höhe transportiert.

Die meisten machen solche Ausflüge sieben-, acht- oder zehnmal am Tag - runter auf Skiern und wieder rauf mit Motorkraft.

440 Millionen Personenbeförderungen zählen die österreichischen Bergbahnen und Schlepplifte jedes Jahr: Unternehmer und Azubis, hartnäckige Senioren, alpine Grenzgänger, Freizeitsportler und Kampfmaschinen, Wittgenstein-Leser und solche, deren kulturelles Interesse sich darauf beschränkt, keinen Weltcup-Abfahrtslauf im Fernsehen zu versäumen. Und alle halten es für eine Selbstverständlichkeit, daß sie heil wieder unten ankommen.

»Aber nur wer mit den Brettern an den Füßen geboren wurde, hat eine Chance, unfallfrei über die Jahre zu kommen, die anderen erwischt es früher oder später.« Dr. Hubert Weitlaner, 58, niedergelassener Chirurg - Spezialität: Knochenbrüche -, ist frivol genug, zu behaupten, das Geschäft gehe dieses Jahr so gut wie seit langem nicht mehr. Vor 20 Jahren hat der gebürtige Tiroler seine Praxis eröffnet, praktischerweise gleich am Fuße des Kitzbüheler Horn.

Der Mensch, so hatte seinerzeit der Doktor überlegt, ist nicht dafür konstruiert, auf Brettern den Berg hinabzufahren. Sein Bewegungsapparat ist darauf abgestimmt, das gesamte Körpergewicht auf dem Fuß, also zweimal der Fläche von 30 mal 8 Zentimetern zu balancieren. Bewegt er sich dagegen auf zwei Meter langen Brettern, so wird aus dem Homo sapiens ein äußerst fragiles Wesen - je länger der Ski, desto größere Hebelkräfte wirken beim Sturz auf Knochen und Gelenke ein.

Zwar ist der menschliche Knochen hart wie Eichenholz, bis zu 1500 Kilo Druckfestigkeit pro Quadratzentimeter. Aber bei einem Sturz, wenn der Körper sich noch in voller Rotation befindet, der Fuß aber festsitzt, sind vor allem Bänder und Sehnen der enormen Dehnbeanspruchung nicht gewachsen; sie reißen wie Zwirn.

Vor zwei Jahrzehnten mußte Dr. Weitlaner froh sein, wenn er S.209 75 Unfälle pro Quartal abrechnen konnte, heute gehen ihm drei Arzthelferinnen zur Hand, sonst würde er bei durchschnittlich 20 Unfällen pro Tag mit der Gipserei nicht nachkommen.

»Schauen Sie«, erläutert der Chirurg, »als Kinder sind wir früher jeden Tag zu Fuß die Berge hochgeklettert, es gab noch keine Lifte.« Und heute? Da kommen die streßgeplagten Leute einmal im Jahr für 14 Tage aus ihren Großstadt-Büros, lassen sich mit ihren untrainierten Beinen auf 2000 Meter Höhe transportieren - »und dann sausen sie wie ein Auto ohne Bremsen runter und hoffen, daß ihnen nichts in die Quere kommt«.

Allein in der Bundesrepublik wird die Zahl der Skiunfälle auf 250 000 pro Jahr geschätzt, davon über 20 000 mit schweren, zum Teil tödlichen Verletzungen. Die Schweizer Unfallversicherungsanstalt hat errechnet, daß im Durchschnitt jeder Skiunfall 7,7 ärztliche Besuche, 1,5 Röntgenaufnahmen, 3,7 Krankenhauspflegetage und fünf Wochen Arbeitsausfall nach sich zieht - doppelt soviel wie ein Fußballunfall.

Dabei fallen zwölf Prozent aller Wintersportverletzungen in die Kategorie der Schwerstunfälle mit mehr als 500 Stunden Arbeitsunfähigkeit. Experten errechneten, daß die durch Skiunfälle in den Alpen jährlich entstehenden Heilungskosten und Verdienstausfälle eine halbe Milliarde Mark übersteigen.

Er sei wohl der einzige Unfallchirurg, scherzt Dr. Weitlaner, der seine Patienten morgens noch bei bester Gesundheit auf der Straße herumspringen und dann ein paar Stunden später auf seinem OP-Tisch liegen sehe. Er schwört, daß er der blonden Dame mit dem rosaroten Skidreß, die gerade von einer Krankenwagenbesatzung auf einer Liege hereingeschoben wird, vorhin noch auf seinem Weg zur Praxis begegnet sei. Die Diagnose ergibt, daß sich die Patientin, eine Geschäftsfrau aus Hanau, am zweiten Tag ihres dreiwöchigen Urlaubs einen Bänderriß im Kniegelenk zugezogen hat.

»Eine typische Skiverletzung«, beruhigt der Doktor, sein Gesicht strahlt verläßliches Wohlwollen aus. Kunststoff oder Gips, das ist jetzt die Frage, und er erläutert den Unterschied. Kunststoff sei 50 Prozent leichter als herkömmlicher Gips, dafür aber dreimal so teuer. Mit einem Plastikgipsbein, erhältlich mit oder ohne Reißverschluß, könne man sogar schwimmen gehen. Die Dame entscheidet sich für Plastik.

Ihre klobigen Skischuhe stehen nun dumm und unnütz herum. »Schauen Sie sich die Dinger an«, sagt Dr. Weitlaner, es folgt ein Kurz-Kolleg über Skiunfälle.

Seit es die modernen hohen Schaftschuhe gibt, ist ein geradezu dramatischer Rückgang an Fußgelenkverletzungen und Unterschenkelbrüchen zu verzeichnen: »Der Fuß ist starr fixiert, da passiert nichts mehr.« Die nächsthöhere Schwachstelle ist das Knie, das muß jetzt alles auffangen - die fortschrittlichen Schuhe verlagern die Verletzungszone nach oben. Knochen können brechen und wieder heilen, »aber einen gerissenen Kniebandapparat kriegen Sie fast nie wieder hundertprozentig hin«.

Die Technik, meint der erfahrene Unfallarzt, habe den Skiläufer überrumpelt, »weil sie ihm eine falsche Sicherheit gibt«. Von einer Praxishelferin, die wie alle seine Angestellten im Winter striktes Skiverbot hat, läßt sich Weitlaner eine Skibrille reichen, die jemand im Wartezimmer vergessen hat, Modell »Bronco«, mit Seitenbelüftung, Schaumstoffabdeckung gegen Flugschnee und Antifog-Doppelscheibe. Manche Brillen, sagt er, sind technisch so weit entwickelt, daß dem Fahrer die eisigen Stellen auf der Piste, die ihm Gefahr signalisieren, einfach weggefiltert werden.

Über Funk wird Dr. Weitlaner zum Rettungshubschrauber gerufen, der neben seiner Praxis auf einer Wiese landet. Bei der Bergung von Schwerstunfällen ist immer ein Arzt an Bord.

Aus 3000 Meter Höhe erscheint die Bergwelt, rund um die bekannte Hahnenkammrennstrecke, in der Mittagssonne friedlich. An den Hängen bewegen sich winzige dunkle Punkte abwärts - beim Näherkommen zeichnen sich die Konturen unzähliger Skiläufer ab. Scheinbar schwerelos gleiten sie kreuz und quer dahin. Die postkartenschöne Szenerie wird jäh gestört durch das Hochzischen einer Leuchtrakete. Langsam entfaltet sich ein rötlicher Rauchpilz. Die Männer der Pistenwacht haben den Leuchtkörper abgeschossen, um dem Hubschrauber die Unfallstelle zu signalisieren.

Für den etwa 45jährigen Mann, der mit aschgrauem Gesicht seitlich zusammengekauert auf dem Akja, dem Rettungsschlitten, liegt, kommt die Hilfe aus der Luft zu spät. Umstehende berichten, sie hätten aus der Ferne beobachtet, wie ein anderer Skifahrer in hohem Tempo auf den Mann zugerast und erst in letzter Sekunde abgedreht sei. Vermutlich Herzinfarkt, schreibt der Arzt in den Unfallbericht, die genaue Todesursache wird im Krankenhaus festgestellt.

Am Nachmittag ist in der Praxis Hochbetrieb. Zwischen 14 und 16 Uhr, Statistiken belegen das, passieren die meisten S.212 Unfälle. Dr. Weitlaner muß nicht erst aus dem Fenster schauen, ein Blick auf die Röntgenbilder genügt, damit er weiß, wie die Pisten aussehen. Heute sind sie hart und glatt, das bedeutet: Vor allem Schulter-, Arm- und Beinbrüche sind zu gipsen.

»Seit es die Tagesliftkarten gibt und nicht mehr Einzelfahrscheine«, erzählt der Krankenwagenfahrer, der gerade ein neues Unfallopfer in die Praxis gebracht hat, seitdem »fahren die Leute wie verrückt rauf und runter, um ja was für ihr Geld zu haben. Das strengt an. Viele sind mittags schon ziemlich kaputt oder deprimiert, weil es mit der Fahrerei nicht so recht klappen will.«

Der Fahrer unterbricht seinen Redefluß, dreht das Autoradio lauter. Ö 3, die Servicewelle des Österreichischen Rundfunks, gibt Hinweise für Wintersportler: »Mehrere Beckenbrüche im Ötscherland, Gefahr von Beinbrüchen am Arlberg. Die Aussichten von morgen ...« Der Fahrer dreht den Ton ab. »Ja, und dann setzen sie sich in eine Skihütte, essen, trinken ein, zwei Glühwein, vielleicht zur Verdauung noch einen Obstler und sehen sich schon im Geiste in rasanter Fahrt talwärts schießen. Mancher, der sich vormittags kaum auf den Beinen halten konnte, hat dann soviel Selbstvertrauen getankt, daß er sich ernsthaft fragt, warum er eigentlich nicht Skilehrer geworden ist.«

Der Mann, dessen Frau einen Unterschenkelbruch erlitt, sitzt im Wartezimmer und schimpft auf das Sportartikelgeschäft, in dem seiner Frau »erst heute morgen« die Bindung eingestellt worden war - sie ging beim Sturz nicht auf.

Nun will er das Geschäft verklagen. So ein Beinbruch kostet 20 000 Schilling, von den Schmerzen, dem geplatzten Urlaub und allem anderen mal abgesehen. Der Mann weiß von einer Münchner Skiläuferin, der nach einem ähnlichen Mißgeschick vom Schweizer Bundesgericht 17 000 Franken Schadenersatz zugesprochen wurden - der Sportartikelhändler mußte zahlen.

Seit diesem Urteil findet man kaum noch ein Skigeschäft in den Alpen ohne vollautomatisches Bindungs-Einstellgerät. Wie bei einem EKG spuckt das Gerät einen Papierstreifen mit allen Daten aus, der Kunde muß die Einstellwerte mit Unterschrift quittieren. Anders können sich die Sportartikelhändler nicht mehr vor der Vollkasko-Mentalität der Skifahrer retten: Wer für viel Geld Bretter kauft und seine Bindung gegen eine Extragebühr einstellen läßt, glaubt, ihm könne nichts mehr passieren; wenn doch, ist der Hersteller schuld.

Auf einer brettharten, für Rückenverletzte konstruierten Spezialliege wird ein älterer Herr in die Praxis transportiert. Beim Langlauf ist er so heftig aufs Gesäß gestürzt, daß es zu einer schweren Quetschung gekommen ist: Verdacht auf Wirbelbruch. Die Röntgenaufnahme bestätigt die Vermutung, der Patient wird wieder in den Krankenwagen geschoben, ein Fall für die Klinik. Dabei hat er noch Glück gehabt: Das Rückenmark ist unbeschädigt. Querschnittslähmungen werden mittlerweile auch bei Langlaufunfällen registriert.

Besonders an Wochenenden, wenn die Loipen in den Ballungsgebieten überfüllt sind, kommt es auf bis zu sechs nebeneinander verlaufenden Spuren zu Rempeleien, Auffahrunfällen, Frontalzusammenstößen. Dr. Weitlaner: »Das ganze Spektrum der alpinen Verletzungen - mit S.213 Ausnahme von Schädelfrakturen - beobachten wir auch beim Langlauf.«

Auf den Gefällstrecken der Loipen werden Geschwindigkeiten bis zu 50 Stundenkilometern erreicht. Kommt dann eine Kurve, ist für den ungeübten Läufer ein Sturz beinahe unvermeidlich. Das hat weniger mit der Qualität der Loipen als mit dem Alter und dem mangelnden Training vieler Langläufer zu tun.

Für unverantwortlich hält Dr. Weitlaner die Werbung der Fremdenverkehrsindustrie, die besonders älteren Menschen suggeriert, um Langlauf zu betreiben, müsse man nicht Ski laufen können. »Das ist so, als wenn man Nichtschwimmer ins Wasser wirft.«

Das Ausmaß der von den Wintersportorten totgeschwiegenen »heimlichen Epidemie« wird deutlich im Jahresbericht des österreichischen Bergrettungsdienstes, Ortsstelle St. Johann: »Untersuchungen haben ergeben, daß bei 300 Langläufern vier bis sechs Unfälle passieren. Schulter-, Arm-, Kreuzbein-, Schenkelverletzungen und sogar Wirbelbrüche sind schon fast an der Tagesordnung.«

Die Zunahme von Langlaufunfällen stellt die Rettungsdienste vor bisher ungelöste Aufgaben, die Bergung auf den kilometerlangen Loipen erfordert spezielle Einsatzplanung. Die Suche wird noch erschwert, weil sich immer mehr Langläufer von den überfüllten Loipen absetzen. Entweder sie weichen auf die Spazierwege aus, oder sie starten zu Querfeldein-Touren abseits von Pisten und Loipen.

Die Industrie unterstützt den neuen Trend: Für derlei Abschweifungen ins Gelände wurde eigens ein neuer Ski entwickelt, mit breiteren Latten als der übliche Langlaufski, zudem mit einer stabilisierenden Metallkante ausgestattet. »Seit sich immer größere Massen querfeldein durch die Wälder ergießen, bekommen wir Riesenprobleme«, berichtet Professor Franz Hoppichler, Chef-Ausbilder beim Österreichischen Skilehrer-Verband, »sowohl was die Sicherheit der Menschen als auch was den Schutz von Wald und Wild betrifft.«

Dr. Soo-Young Oh, 50 Jahre alt und nur 1,59 Meter groß, spricht fließend Schwyzerdütsch mit fernöstlichem Akzent. Der Chef der Neurochirurgischen Abteilung des Kantonsspitals in Chur, mitten in Graubünden, dem größten Skigebiet der Schweiz, gilt als weltweit anerkannter Spezialist für Skiunfälle mit Schädel-Hirn-Traumata. Er wird tagtäglich mit der häßlichsten Seite des Skilaufens konfrontiert.

»Es ist alles sehr traurig«, sagt er mit leiser, sanfter Stimme. Die beiden Patienten, die bewegungslos in der Intensivstation der Klinik liegen, sind seit ihrer Einlieferung vor zwei Tagen bewußtlos.

Dr. Oh kennt den Unfallhergang aus den Akten: Ein 20jähriger, brilliant fahrender S.214 Mann hatte eine Lifttrasse überquert und anschließend einen Steilhang, auf dem ein 15jähriger in Schußfahrt talwärts fuhr. Keiner reagierte auf den anderen. Augenzeugen berichteten, es habe beim Zusammenprall einen Knall gegeben wie bei der Kollision zweier Motorräder.

Beim Skilaufen hat es immer Verletzungen gegeben, meint Dr. Oh, aber in letzter Zeit habe man es mit Verletzungen wie bei Verkehrsunfällen zu tun. Sie sind oft so schwer, daß die Betroffenen ihr Leben lang Krüppel bleiben. Bei Hirnverletzungen kann es zu Gedächtnisschwund kommen, zu Epilepsie oder, wenn der Stirnlappen beschädigt ist, zu Persönlichkeitsveränderungen. Gravierende familiäre und soziale Probleme sind fast stets die Folge, besonders bei Kindern.

Im Winter 1980/81 alarmierte Dr. Oh zum erstenmal die Öffentlichkeit. »Damals lagen in unserer Intensivstation nur Skiunfälle, alle mußten künstlich beatmet werden.« Die Unfallaufzeichnungen, die seither im Spital von Chur gesammelt wurden, lesen sich wie Kriegsberichte:

* Ein elfjähriges Mädchen zog sich bei einem Sturz eine Unterschenkelfraktur zu und blieb liegen. Ein in vollem Tempo heranrasender Jugendlicher konnte nicht mehr bremsen und bohrte dem Mädchen eine Skispitze in den Kopf. Der Ski blieb heil, das Mädchen starb zwei Tage nach dem Unfall (siehe Bild Seite 206).

* Einem 13jährigen Kind wurde ein Skiliftbügel gegen den ungeschützten Schädel geschleudert - das Kind erlitt einen offenen Schädelbruch oberhalb der Stirn.

* Ein zehnjähriges Kind stürzte über einen unter Neuschnee verborgen liegenden Felsen und geriet mit dem Kopf an einen spitzigen Felsvorsprung - offener Schädelbruch an der rechten Kopfseite mit schwerer Hirnquetschung.

* Ein 40jähriger Mann geriet bei guten Wetter- und Schneeverhältnissen von der Piste ab und schlug gegen eine Felsplatte. Er erlitt eine »ausgedehnte säbelhiebähnliche Spaltungsfraktur« von Gesicht und rechter Schädelhälfte - er starb auf dem Transport ins Krankenhaus.

»Besonders gefährlich«, so resümieren die Ärzte der Neurochirurgischen Abteilung in Chur, »sind Kollisionen mit anderen Skifahrern.« Dabei erscheint den Medizinern bemerkenswert, daß von den beiden Kollisionspartnern meistens »die langsamen und vorsichtigen Fahrer die schwereren Schädel-Hirn-Verletzungen« davontragen.

Über 50 Prozent der Verunglückten, die im Kantonsspital Chur behandelt werden, kommen aus der Bundesrepublik. Vor allem Kinder und Jugendliche, die die Gefahren nicht abschätzen können, sind betroffen. Von 105 Kindern unter 17 Jahren, die in den letzten drei Wintern in Chur behandelt werden mußten, wurden 25 wegen Bluterguß im Gehirn oder wegen eingedrückter Schädeldecken operiert; das jüngste Kind war drei Jahre alt.

Untersuchungen der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Versuchsanstalt in St. Gallen ergaben, daß die Schläfenwand des menschlichen Schädels schon bei einer Kraft, die einer Geschwindigkeit von 16 Stundenkilometern entspricht, eingedrückt werden kann. Gute Skiläufer kommen leicht auf Tempo 80, zumal heute die Hänge durch Raupenfahrzeuge so glatt wie Autobahnen planiert werden und die Skiläufer dadurch schneller und schneller werden. Rennläufer tragen wenigstens Schutzhelme, die meisten Urlauber nicht. Dr. Oh: »Auf lange Sicht hilft nur die Helmpflicht.«

Aggressive Werbung ist nach Meinung des Mediziners eine der Hauptunfallursachen. Die Werbung verschleiere nicht nur die Gefahren, im Gegenteil, sie animiere den Normalskifahrer immer mehr zu Rennläufer-Ambitionen: »Besonders Jugendliche, für die die Ski-Asse nun mal Idole sind, werden zur Nachahmung verleitet und geraten immer häufiger in nicht mehr beherrschbare Geschwindigkeitsbereiche.«

Bei einer Repräsentativbefragung in Österreich äußerten 36 Prozent der Skiurlauber den Wunsch, schneller talwärts zu fahren und ihr eigenes Tempo durch elektronische Zeitmesser stoppen zu lassen. Über ein Dutzend Skiorte in Österreich und der Schweiz können den Bedarf an Sekunden-Leistungskontrollen bereits erfüllen. Weitere wollen sich in Kürze diese technische Errungenschaft zulegen, um nicht ins Hintertreffen zu geraten.

Wie ein sogenanntes »Er-und-Sie-Gästerennen« zum Abschluß eines Skikurses abläuft, schilderte der Kolumnist der Wiener »Kronen-Zeitung": »Beim Start war vorgesehen, daß jeder ein Viertel Glühwein zu trinken hat. Dann aber ging's erst richtig los, hinunter durch die Tore, vorbei an den Streckenposten. Bei jedem Streckenposten mußten die Konkurrenten anhalten und je ein Glas Schnaps leeren, im Ziel gab's dann noch einen Schnaps.«

In einem Bericht des »Österreichischen Kuratoriums für Alpine Sicherheit« heißt es: »Von 92 unter Alkoholeinfluß verunglückten Skifahrern überlebten 30 den Unfall nicht. Fast alle untersuchten Unfälle ereigneten sich nach Einbruch der Dunkelheit bei der Abfahrt von einer Skibar, einer Hütte oder einem Berggasthof.«

Dr. Bruno Durrer, Arzt im Rettungshubschrauber der Schweizer Flugwacht, wird immer häufiger zu Unfallstellen gerufen, »über denen eine Fuselwolke hängt«. Bei einem Verkehrsunfall auf der Straße, meint Durrer, komme die Polizei, und die Schuldfrage sei schnell geklärt. »Die Skipisten aber betrachten viele als freies Jagdgebiet. Am Berg wollen sie sich austoben, da müssen sie keine Kontrollen befürchten.«

Lange wird es wohl nicht mehr so bleiben. In Südtirol machen in diesem Winter erstmals 105 Polizisten Dienst an den Skihängen - sie überwachen die Einhaltung der Pistenordnung und nehmen Unfälle auf.

»Der nächste Schritt«, vermutet Dr. Durrer, »sind Radarüberwachungen an den Abfahrten und Alkoholkontrollen vor den Skihütten.«

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