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PARIS Auf Luft gebaut

aus DER SPIEGEL 10/1963

Wir haben von unseren Vätern eine IV Stadt geerbt«, erfuhren die Pariser in der letzten Woche, »die zu den größten und schönsten Metropolen der Welt gehört. Aber es ist eine Stadt aus dem 19. Jahrhundert, ein ungeheuer formloses, trauriges Agglomerat.«

Mit so ernüchterndem Vokabular kündigte der Regierungsbeauftragte für die städtebauliche Neuordnung von Paris, Paul Delouvrier, ein Vorhaben an, dessen Verwirklichung nach seinen Worten lange währen« wird: die Modernisierung der französischen Hauptstadt. In einem Weißbuch von 128 Seiten entwarf Delouvrier eine Vision vom Paris des Jahres 1975. Danach sollen

- 500 Wolkenkratzer von je 150 Meter Höhe mit insgesamt 1,2 Millionen Wohnungen rund um Paris errichtet werden,

- sieben neue Ausfallstraßen und zwei neue Metro-Expreßlinien gebaut werden,

- 120 000 neue Parkplätze in Tief- oder,

Hochgaragen, angelegt werden.

Was werden wir unseren Kindern hinterlassen?« fragte Delouvrier. »Ein

Museum Lind Millionen von Wohnlöchern, oder eine lebensfähige moderne Staat des 21: Jahrhunderts, die sich um einen histotischen alten Kern gruppiert?«.

Das ist in der Tat die Kardinalfrage, vor der Frankreichs Städtebauer stehen. Die Hauptstadt, heute kultureller Mittelpunkt und - zumindest nach, dem Wunsche Charles de Gaulles - vielleicht dereinst auch politisches Zentrum Europas, droht zu ersticken.

8,5 Millionen Menschen wohnen heute in Groß-Paris, drei Millionen im eigentlichen Stadtkern. In jedem Jahr schwillt die Stadt um 200000 Einwohner an. Seit Jahren brüten die Pariser Stadtväter über Plänen, die den Zustrom der Einwanderer bremsen oder gar alteingesessene Pariser zur Emigration veranlassen sollen.

Zahlreiche Pläne zur Sanierung von Paris wurden entworfen, diskutiert, nie verwirklicht. Und auch nach der Bekanntgabe des Delouvrier-Programms ist noch immer nicht abzusehen, wann jene Verkehrs- und Versorgungsprobleme gelöst sein werden: an denen die Seine -Stadt heute krankt:

- Eine Million Kraftfahrzeuge verstopfen täglich die Straßen von Paris, die Autobesitzer kämpfen um die Parkplätze.

- In Paris fehlen mehrere Hunderttausend Wohnungen, ein Großteil der

vorhandenen Wohnungen ist abbruchreif. Ein Viertel der Pariser Häuser stammt aus der Zeit vor 1871 oder gar aus dem 17. und 18. Jahrhundert, ein Drittel wurde zwischen 1871 und 1914 erbaut.

- Von den drei Millionen Einwohnern des eigentlichen Stadtgebiets hausen

- nach Schätzungen der Behörden -

800 000 in Wohnungen mit ungenügenden sanitären Verhältnissen; weitere 100 000 Bewohner des Raumes Groß-Paris haben sich in 35 000 Hotelzimmern eingemietet.

- Die Versorgungsdienste der Stadt

sind überstrapaziert. Gas- und Elektrizitätsnetz sind überlastet, die Trinkwasserzufuhr ist an heißen Sommertagen gefährdet. Jährlich müssen 50 000 Anträge auf Telephonanschlüsse zurückgestellt werden.

Das Dilemma von Paris ist Folge einer jahrhundertelangen Zentralisierungspolitik. Anders als in Deutschland, wo sich als Folge der Kleinstaaterei Dutzende von kulturellen Schwerpunkten und Verwaltungszentren herauskristallisierten, wuchs in Frankreich Paris als wirkliche Metropole heran.

Schön Anfang des 16. Jahrhunderts hatte Paris 400 000 Einwohner und war damit die größte Stadt Europas. 1607 erließ Heinrich IV. die erste Parkverordnung: ein Abstellverbot für »Wagen, Karossen und andere Gegenstände auf den Straßen, damit die Fortbewegung nicht behindert werde«.

Ein Jahrhundert später wurde den Behörden die Anziehungskraft der französischen Metropole bereits unheimlich. Bei der Größe, die Paris inzwischen erreicht habe, hieß es in einer Deklaration des Jahres 1724, könne ein weiteres Anwachsen nicht geduldet werden, wolle man die Stadt nicht »dem Ruin aussetzen«.

Als aber das industrielle Zeitalter anbrach, scheute niemand den Ruin. In und um Paris siedelte sich das Gros der französischen Industrie an.

So sind heute im Pariser Raum massiert:

- 77 Prozent der optischen Industrie

Frankreichs,

- 67 Prozent der Automobilindustrie,

- 60 Prozent, der Flugzeugindustrie,

- 55 Prozent der Elektroindustrie,

- 44 Prozent der chemischen Industrie.

Daß die Stadt überhaupt noch lebensfähig blieb, dt. Napoleon III. zu verdanken. Unter seiner Regierung ließ der Pariser Präfekt Georges-Eugène Haussmann weite Bereiche der Stadt abreißen. Haussmann brach durch die dichtbebaute Innenstadt breite Avenuen und Boulevards wie den Boulevard Saint Michel oder den Boulevard de Sebastopol. »Vor allem«, so begründete damals Haussmann sein Sanierungsprogramm, »handelt, es sich aber auch um die Aufschlitzung des alten Paris, der Stadtviertel der Meutereien und Barrikaden.«

Seit Haussmann die Innenstadt aufschlitzte, hat sich die Bevölkerung vervielfacht. Aber niemals wieder ist eine auch nur annähernd vergleichbare Aktion eingeleitet worden; um Frankreichs Hauptstadt Luft zu verschaffen.

An Plänen fehlte es nicht. Schon in den zwanziger Jahren schlug der Städtebauer Le Corbusier vor, ganze Stadtteile bis auf wenige architektonische Kostbarkeiten abzureißen und auf den niedergewalzten Vierteln 50stöckige Hochhäuser zu bauen. Seine Devise: »Der Kern unserer überalterten Städte, muß zerschlägen werden. »

Die neue Stadt sollte in sechs« deutlich voneinander getrennte Bereiche gegliedert werden: Wohnbezirk, Industriegebiet, Lager-Areal und Handwerkerzonen, Geschäftszentrum, Regierungs- und Verwaltungsviertel, Hochschulregion.

Der Gewaltstreich des renommierten französischen Architekten fand nicht statt. Und mehr als drei Jahrzehnte vergingen, ehe - im Sommer 1960 ein »Plan zur Ausstattung der Region von Paris sowohl vom Stadtrat als auch von, den Parlamenten der umliegenden Departements gebilligt wurde.

Danach sollen

- die Zusammenballungen der französischen. Industrie im Pariser Raum gelockert werden;

- stark überalterte »Stadtviertel im Stadtkern abgerissen und neue Wohnsiedlungen errichtet werden;

- Verkehrsbedingungen herbeigeführt werden, die der ständig steigenden

Einwohnerzahl und dem wachsenden

Autoverkehr angemessen sind.

Obgleich dieses neue Paris schon 1970 fix und fertig sein sollte, hat man bis heute kaum mit den Arbeiten begonnen. Behörden und Interessenvertreter streiten sich fortwährend, wie die Verordnung zu verwirklichen sei.

Und daß das phantasielose Projekt Delouvriers verwirklicht wird, das außer der Wohnungsnot keines der dringlichen Pariser Probleme lösen und im Gegensatz zu modernen Städtebau-Erkenntnissen stehen würde, ist unwahrscheinlich. Die Zukunft von Paris, wie Delouvrier sie in seinem Weißbuch ausmalte, erschien dem »Figaro« geradezu »schrecklich«.

Alles, deutet darauf hin, daß Delouvriers Weißbuch sich als nur einer von vielen Plänen erweisen wird, die seit Jahren in Paris diskutiert werden. So plädierte

Architektengruppe unter Führung von Andre Bloc dem Chefredakteur der Zeitschrift »L'Architecture d'aujourd'hui« (Architektur von heute), dafür, neben dem alten Paris ein neues attraktives Zentrum zu bauen und beide Stadtteile durch Schnellstraßen und -bahnen zu verbinden. Neu-Paris würde nach den Plänen dieser Architekten, denen von Kritikern ein ."Brasilia -Komplex« nachgesagt wird, etwa 60 Kilometer südwestlich derb jetzigen Metropole entstehen. Wohnkapazität: eine Million Einwohner.

»Mit wahrscheinlich weniger Geld als dem, das künftig darauf verwendet werden wird, wild und mittelmäßig in Paris und im Departement Seine herumzubauen«, verlautbarte Bloc, »schlagen wir den Bau einer neuen Stadt vor, die alle die Menschen aufnehmen könnte, die aus ihren baufälligen Wohnungen in Paris heraus müssen.«

Alle Verwaltungen und Ämter, die nicht unbedingt in de- Altstadt bleiben müssen, könnten nach Ansicht Blocs in der neuen Stadt untergebracht werden. In Alt-Paris sollten erhaltenswerte Bauten restauriert und mit Grünflächen umgeben werden. Schließlich wäre es möglich, »der Stadt unwürdige Gegenden nach den Prinzipien modernen Städtebaus umzugestalten«.

Ein anderer Architekt wiederum, Michel Holley, regte an, Paris künftig nicht weiter in horizontaler, sondern in vertikaler Richtung auszubreiten. Drei Verkehrsebenen schweben dem Neuerer vor: das Parterre für die Automobile, die erste Etage (in vier Meter Höhe) als Parkraum, die zweite Etage (in sieben Meter Höhe) als Reservat für Fußgänger. Zwei- bis dreistöckige Geschäftshäuser sollen die; Straßen begrenzen, 20 bist 30stöckige Hochhäuser die Wohnungen bergen. Holley: »Es handelt sich lediglich darum, den städtischen Baugrund anders aufzuteilen.«

Um diesen Plan konsequent verwirklichen zu können, müßte Holley freilich, wie es einst Le Corbusier plante, den größten Teil von Paris einreißen lassen.

Nur das Dreieck Montmartre - Panthéon - Invalidendom, das die meisten Sehenswürdigkeiten, des alten Paris beherbergt, bliebe erhalten.

Holleys Radikalplan geht freilich von einer buchstäblich bodenlosen Voraussetzung aus. Denn die Flächen, die für die Neuordnung erforderlich wären, gehören fast ausnahmslos Privatleuten oder Bodenspekulanten, die ohne zeitraubende - Kämpfe nicht bereit sein würden, ihren Besitz zu reellen Preisen aufzugeben.

Solche Schwierigkeiten will der 40jährige Yona Friedman, ein Israeli in Paris, vermeiden. Er bietet von allen Stadtplanern die ungewöhnlichste Lösung für die Metropole der Zukunft. Sein »Paris Spatial« soll, auf mächtigen Pfeilern, über dem alten Paris schweben.

Vor allem die häßlich und unzweckmäßig gebauten, Stadtviertel südlich, östlich und nördlich der Innenstadt hat Friedman als Bauplätze für seine hängenden Luftschlösser vorgesehen. Sie sind in den Entwürfen als »Raumstadtteile« - von mehreren Kilometern Länge und mehreren Hundert Metern Breite ausgefertigt - ein gigantisches Gitternetz, in das eine Unzahl rechteckiger Kästen montiert ist.

Aus diesen vollklimatisierten Waben (Grundfläche: 5,20 mal 5,20 Meter, Höhe: 2,60 Meter) denkt sich Friedman die Wohnhäuser zusammengesetzt, die jeder Bauherr in beliebiger Größe zusammenfügen lassen kann - je nach Größe der Familie und des Einkommens. Fahrstühle, Treppen, Auffahrten, Strom-, Gas-, Wasser-, Abwasser- und Telephonleitungen sollen in den gewaltigen Tragepfeilern untergebracht werden.

Der Architekt hält es für »grundsätzlich denkbar«, sämtliche Einwohner Frankreichs in 15 Drei-Millionen-Raumstädten, ganz Europa in 150, ganz China in 250 und die gesamte Weltbevölkerung in 1000 großen Raumstädten unterzubringen.

Doch Friedmans Pläne schweben - wie die aller anderen Paris-Planer - vorerst dort, wo er sie verwirklichen will: in der Luft.

Für sie gilt, was die Zeitung »Libération« in der vergangenen Woche auch über das Projekt des Regierungsbeauftragten Delouvrier schrieb: »Wer soll das bezahlen?«

Pariser Wohngegend (Quartier Latin), Pariser Verkehr (Champs-Elysées): Wolkenkratzer oder Wohnlöcher?

»Raumstadt Paris« (Photo mit eingezeichneter Projekt-Skizze): Vollklimatisierte Wohnwaben...

Raumstadtplaner Friedman

... über den Dächern von Paris

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