POLIO-IMPFUNG Aus dem Schnapsglas
Das Telegramm war »an die Regierung der Bundesrepublik zu Händen des Bundeskanzlers Herrn Dr. Adenauer, Bonn« adressiert, als Absender zeichnete der DDR-Minister Willi Stoph. »Mit Erschütterung hat die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik erfahren«, kondolierte Stoph Ende vergangenen Monats, »daß in Nordrhein-Westfalen mehr als 650 Personen an spinaler Kinderlähmung erkrankt und daß bereits 42 Todesopfer zu beklagen sind.«
Das Schreiben mündete in das Angebot, »sofort drei Millionen Einheiten des Impfstoffes von Sabin-Tschumakow zu liefern«, eine Menge, die ausreiche, in den am stärksten bedrohten Gebieten alle Kinder bis zu 14 Jahren zu schützen. »Da es sich um eine Schluck -Impfung handelt«, erläuterte Stoph, »läßt sich die Rettungsaktion schnell und unkompliziert durchführen.«
Am Freitag vorletzter Woche erlösten Wissenschaftler und Medizinalbeamte die Bundesregierung von dem Alpdruck, das selbstbewußte Angebot (Stoph: »Wir sind frei von der gefährlichen Seuche") nicht mit guten Gründen ausschlagen zu können. Der (unabhängige) Bundesgesundheitsrat empfahl nach einer Sitzung in Königswinter aus grundsätzlichen Erwägungen Zurückhaltung gegenüber Polio-Impfstoffen, die - wie der aus dem Osten angebotene - nicht gespritzt, sondern einfach geschluckt werden. Die Wirkungsweise des neuen Impfstoffs, so verlautbarten die Gesundheitshüter, sei noch nicht genügend geprüft worden.
Anlaß der Debatte im Gesundheitsrat war freilich weniger das DDR-Angebot als vielmehr der Wunsch der nordrhein-westfälischen Gesundheitsbehörden, eine Aktion mit
Schluck-Impfstoff amerikanischer Herkunft durchzuführen. Zwar waren nicht - wie Stoph geschrieben hatte - 650 Personen an spinaler Kinderlähmung (Poliomyelitis) erkrankt, aber immerhin weit über 400, so daß zahlreiche Schulen, Kindergärten
und Freibäder geschlossen werden mußten. 20 Kinder waren gestorben.
In ihrer Bedrängnis kamen 30 Ärzte und Gesundheitsbeamte in Düsseldorf überein, Anfang September, nach dem Ende der Schulferien, für die am meisten betroffenen Städte Schluck-Impfungen zu empfehlen. Sie unterbreiteten ihr Vorhaben dem Bundesgesundheitsrat, doch dieses Gremium riet ab. Die Experten einigten sich darauf, die Entscheidung zu vertagen.
Mit diesem Beschluß bleiben die Gesundheitsbehörden der Bundesrepublik ihrem Prinzip treu, neuen Entwicklungen auf dem Gebiet der Polio-Schutzimpfung so lange wie möglich zu mißtrauen. Während die Sowjet-Union und die Ostblockstaaten schon über 120 Millionen Menschen mit dem Schluck -Verfahren gegen Kinderlähmung geimpft haben und das US-Gesundheitsamt am 28. Juni den neuen Schluckimpfstoff freigegeben hat, bleibt das von vielen Fachleuten als besonders wirksam angesehene Vorbeugungsmittel den Westdeutschen vorläufig versagt.
Die Zurückhaltung, die der Bundesgesundheitsrat übt, ist verständlich angesichts eines Unglücks, das im Mai 1955 über Amerikas impffreudige Eltern hereinbrach. Einen Monat, nachdem über alle Fernseh- und Rundfunkstationen der USA verkündet worden war, daß der von Dr. Jonas Salk entwickelte Impfstoff gegen die spinale Kinderlähmung nach eingehender Prüfung für »unschädlich und wirksam« befunden worden sei, erkrankten 44 geimpfte Kinder an Poliomyelitis. Vier starben.
Da 38 dieser Polio-Opfer mit Vakzine geimpft worden waren, die eine bestimmte pharmazeutische Fabrik - die Cutter-Laboratorien in Berkeley (Kalifornien) - hergestellt hatte, lag der Verdacht nahe, daß bei der Herstellung des Impfstoffs in den Cutter-Werken eine Panne passiert war.
Der nach dem Salkschen Verfahren hergestellte Impfstoff enthält Polio -Viren, die durch Formaldehyd abgetötet worden sind. Die abgetöteten Krankheitserreger sind nicht mehr gefährlich; der Körper wird durch sie jedoch veranlaßt, Abwehrstoffe gegeh die Kinderlähmung zu bilden. Eine Charge des von den Cutter-Werken hergestellten Impfstoffs, so stellte sich später bei einer Untersuchung der Krankheitsfälle heraus, enthielt Viren, die nicht abgetötet worden waren.
Durch dieses Desaster und eine Reihe anderer Zwischenfälle bei den ersten Polio-Impfungen in den USA erschreckt, zögerten die westdeutschen Gesundheitsbehörden, den (inzwischen-verbesserten und schärfer überprüften) Salk-Impfstoff in der Bundesrepublik zuzulassen. Erst seit dem Frühjahr 1957 stechen Westdeutschlands Impfärzte sowohl Kindern als auch Erwachsenen die Polio -Spritzen unter die Haut. Ernste Impfschäden wurden nicht bekannt. Verschiedentlich klagten Ärzte indes über ungenügende Wirksamkeit des Impfstoffs. Trotz der Schutzimpfung erkrankten manche Kinder an Poliomyelitis.
Während Salk als »Sieger über die Kinderlähmung« gefeiert wurde, entwickelten die amerikanischen Forscher Dr. Albert Sabin und Dr. Herald Cox Impfstoffe, die nicht abgetötete, sondern
aktive - freilich abgeschwächte - Erreger enthalten und gegenüber der Salk -Vakzine vier Vorteile aufweisen:
- Sie werden nicht gespritzt, sondern
geschluckt;
- sie schützen die Geimpften jahrelang
vor Kinderlähmung;
- sie schützen den Impfling nicht erst nach einigen Monaten, sondern schon nach wenigen Wochen; es lohnt also auch dann noch, Schluck-Vakzine zu verteilen, wenn schon eine Polio-Epidemie ausgebrochen ist;
- die Impfung wird nicht jeweils drei bis viermal hintereinander, sondern nur einmal vorgenommen.
Die amerikanischen Gesundheitsbehörden schreckten jedoch bis Ende vergangenen Monats davor zurück, diese Impfstoffe zu empfehlen. Sie befürchteten, daß die Erreger nach der Impfung im Körper wieder virulent werden, also selbst Kinderlähmung auslösen könnten. Die sowjetischen Gesundheitsbehorden hatten weniger Skrupel. Sie übernahmen Sabins Impfstoff-Rezept und ließen unter der Oberleitung des Akademieprofessors Tschumakow die Vakzine
in Mengen herstellen. Um sie den russischen Kindern schmackhaft zu machen, spannte Tschumakow das Moskauer Zuckerkombinat ein: Er ließ Bonbons fabrizieren, die abgeschwächte Polio -Viren enthielten.
Im Frühjahr vergangenen Jahres wurden die deutschen Gesundheitsbehörden, die sich erst nach langem Zögern für die Salk-Impfung entschlossen hatten und noch nicht daran dachten, das Risiko einer neuen Impfmethode einzugehen, plötzlich aufgeschreckt. Waggonweise rollten für die Zone und für Ostberlin Impfbonbons des Moskauer Zuckerkombinats an. Alle schulpflichtigen Kinder der DDR und auch viele Erwachsene wurden angewiesen, die Polio-Bonbons zu lutschen.
Da es zu den Eigenarten der Sabin-Impfung gehört, daß die Impflinge Viren ausscheiden (die durch sogenannte Schmutzinfektionen auf Nichtgeimpfte übertragen werden können), befürchteten die Westberliner Gesundheitsbeamten, daß Einwohner Westberlins durch geimpfte Ostberliner infiziert werden könnten.
Zwar galt als Regel, daß auch Personen, die durch Schmutzinfektionen mit abgeschwächten Polio-Viren infiziert werden, nicht erkranken. Da sich die Westberliner Gesundheitsbehörde nun jedoch ohnehin den möglichen Gefahren der Schluck-Impfung ausgesetzt sah, hielt sie für ratsam, selbst die Schluck-Impfung einzuführen. Die Medizinalbeamten mochten sich freilich nicht für den im Osten bevorzugten Sabin-Impfstoff entscheiden; sie wählten die Cox-Vakzine. Beide Impfstoffe differieren nur in Nuancen.
Die eilends im Mai vergangenen Jahres ausgeführte Westberliner Schluck-Impfung hatte indes ein Nachspiel. Wenige Tage, nachdem 280 000 Kinder und Erwachsene den nach Kirschwasser schmeckenden Impf -Cocktail aus Schnapsgläsern getrunken hatten, erkrankten 41 Berliner an Poliomyelitis, zwei davon starben, 23 der Polio-Kranken waren geimpft worden; ändere hatten mit geimpften Kindern im gleichen Haushalt gelebt. Der Verdacht lag nahe, daß mindestens einige der Polio-Opfer durch die Impfung erkrankt sein konnten.
Eine andere - wahrscheinlichere - Version besagte, daß die Impfungen zu Unrecht verdächtigt würden, weil zur gleichen Zeit weite Teile Westdeutschlands von einer Epidemie größeren Ausmaßes befallen waren. Nach dieser Auffassung ist in Berlin zu einem Zeitpunkt geimpft worden zu dem bereits ein Teil der Bevölkerung die Viren in sich trug: Zwischen der Infektion und dem Ausbruch der Krankheit vergehen gewöhnlich zwei bis drei Wochen.
Die Erkrankungen während der Berliner Polio-Epidemie belasteten auch die Diskussionen des Bundesgesundheitsrats am Freitag vorletzter Woche in Königswinter. Nach Ansicht des Bundesgesundheitsrats ist die Frage, ob die Schluck-Impfung nun wirklich absolut unschädlich ist, noch immer nicht zuverlässig geklärt worden.
Für die Wirksamkeit der Schluck-Impfung hingegen konnte der Westberliner Seuchen-Referent Dr. Helmuth Kochs inzwischen ein Indiz anführen: Seit dem Sommer vorigen Jahres ist in Westberlin nur ein einziger Fall von Kinderlähmung registriert worden.
Sabin
Schluck-Impfung in Westberlin: Keine Cocktails für Bundeskinder