SCHRIFTSTELLER Aus dem Vollen
Es war immer eine Mordsgaudi, droben auf dem Berg, »die Tuften« genannt, halbwegs zwischen Rottach-Egern und Tegernsee, in der Zirbelholzstube mit den vielen Geweihen, im behäbigen oberbayrischen Haus mit dem Blick ins Weite und Weißblaue.
Eine Musi spielte, launige Reden wurden geschwungen, Bier floß und damit der Mund über. So etwa als Franz Alt (der von »Report") Anlaß der Reden war und Erich Kiesl noch Oberbürgermeister von München und Chef der Gaudi; der sang dann unweigerlich, das Herz leichter als die Zunge, seine allseits mit Grausen erwarteten Gstanzln.
Jetzt hat das Grausen andere Gründe, jetzt sehen viele alt aus. Denn was da auf Bergeshöhn, im ehedem von Ludwig Thoma bewohnten Haus, alljährlich gefeiert und begossen wurde, macht aus Betroffenen nun Bedripste: die Verleihung der »Ludwig-Thoma-Medaille« durch Kulturträger der Stadt München.
Der Säulenheilige der bayrischen Literatur nämlich, der kernige Realist und satirische Chronist bayrischen Lebens und Treibens, der unerschrockene, vitriolische »Simplicissimus«-Fechter wider wilhelminischen Militärprotz, klerikale Dunkelmännerei und den Übermut der Ämter - Ludwig der Große (1867 bis 1921) steht nun plötzlich als kleiner Kläffer da.
Schlimmer: als wütender Antisemit, flegelhafter Antidemokrat, als reaktionärer Demagoge, Fremdenhasser, Gewaltprediger, als ein Wegbereiter Hitlers. Und die Goldmedaille seines Namens, gedacht für Persönlichkeiten, die »in ähnlich mutiger und offener Weise hervorgetreten sind wie Ludwig Thoma«, tragen Leute wie Golo Mann und Dieter Hildebrandt, Hans-Jochen Vogel und Franz Xaver Kroetz, Hans Küng und Gerhard Polt und Münchens Oberbürgermeister Georg Kronawitter.
Anlaß für die Neutaxierung Thomas und den Grusel der Geehrten ist der Wirbel (Münchens »AZ": »Wie der Volksdichter wirklich dachte") um ein Buch, das im nächsten Monat erscheinen wird - just in dem Verlag, der als Gesamtwerk-Herausgeber Thomas eine Bonanza in dem Bayern hat, Piper in München. Titel: »Ludwig Thoma. Sämtliche Beiträge aus dem ,Miesbacher Anzeiger' 1920-21"*.
In jenem »Miesbacher Anzeiger«, einer reaktionären Provinz-Dreckschleuder, hatte Thoma in den letzten 14 Monaten vor seinem Magenkrebs-Tod die Sau rausgelassen: pöbelnd, unflätig, bramabasierend - und anonym. Resultat der rund 180 Artikel, Kommentare, Polemiken: Die Auflage des Blattes stieg von 4000 auf 18 000 Exemplare täglich, der Geifer wirkte bis Berlin, der ungenannte Schreiber wurde zur Rätselfigur, zum »Cato von Miesbach«.
Nur mit größtem Unbehagen mag man zitieren, was dem Bayern da aus der Feder troff, gegen Berlin, diese »Mischung von galizischem Judennest und New Yorker Verbrecher-Viertel«, gegen die junge Republik, dieses »Affenwerk von Weimar«, gegen die Demokratie, diese »charakterlose Deppokratie«, diesen »Blödsinn einer parlamentarischen Regierung«.
»Abgebrannte Ehrenmänner«, »charakterschwache Hosenscheißer« sieht er am Werk, »armselige Rindviecher, die nur Parteibroschüren gefressen haben«. Freilich sei es »lächerlich, zu glauben, daß unsere tiefgewurzelte, in der Rasse begründete, durch ein Jahrtausend hindurch festgehaltene Eigenart ausgerottet werden könnte durch die blöden Versuche sozialdemokratischer Spießbürger«.
Und immer wieder die Juden, die »degenerierten Salonbuben«, »galizischen Rotzlöffel«, die »Brandstifter«, die mit ihren Zeitungen selbst den Antisemitismus schürten, das »Feuer des Rassenhasses« anfachten. »Wir Arier haben es am Ende nicht nötig, ruhig zuzusehen, wie schmierige Lausbuben, Tango- und Spinatburschen« (Homosexuelle) zu »Christenpogromen hetzen«.
Immer wieder drohend: Der Antisemitismus könne »noch ganz andere Formen annehmen und sich nicht darauf beschränken, Hakenkreuze anzumalen«. Thoma stellt »jedem, der mit der galizischen Preßkanaille an der Spree Differenzen auszugleichen hat, einige haltbare Miesbacher Ochsenfiesel zur Verfügung«, und im »Stürmer«-Stil: »Hier hilft kein Zureden, hier hilft bloß die Knute.«
Und zu schon geschehenen Morden, an Kurt Eisner, dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Bayerns, und dem Sozialisten Gustav Landauer, merkt Thoma an: »Immerhin waren das nur Vorspiele zu größeren Kuren, die wir uns gelobt haben, für den Fall, daß sich die Beschnittenen bei uns noch einmal mausig machen. Dann geht's aus dem Vollen.«
»Versteht man jetzt in Bayern«, fragt er, »daß heute der Main-Strom ein tieferer Grenzgraben sein muß, als jemals vorher?« Nicht gegen die »preußischen Brüder, denen wir bei der Abrechnung einmal gerne helfen wollen«, sondern »gegen die galizische Pest«. Jeder »brave Mann in Preußen« wisse heute, »wo er den Grundstock eines ehrlichen Deutschtums zu suchen hat - in Bayern. Daran macht sie und uns kein Jud irre«.
Es blieb nicht aus: Wenige Wochen vor seinem Tode erhielt Thoma vom Tegernseer NSDAP-Ortsgruppenvorstand Erich Gärtner einen Brief. Soweit er unterrichtet sei, schrieb der Braune, stehe Thoma »auch im Lager der Judengegner«; leider werde »von keiner größeren politischen Partei diesen jüdischen Elementen als Fremdkörper im Ariertum die genügende Achtung« geschenkt. »Sollten Sie Interesse bekunden . . .« Der Aufnahmeantrag blieb unausgefüllt.
Ist damit der Stab über Ludwig Thoma gebrochen, der Volksdichter als Volksverhetzer ausgemustert? Der Herausgeber der »Miesbacher«-Elaborate, der Regensburger Historiker Wilhelm Volkert, warnt vor einer »endgültigen Abstempelung«. Erst müsse »das Gesamtwerk aufgearbeitet werden«, es herrsche ein »heilloses Durcheinander in der Thoma-Philologie«, die »Thoma-Erkenntnis ist nicht abgeschlossen«.
Als möglichen Leitfaden für die Wendemanöver Thomas - vom linksliberalen »Simplicissimus«-Satiriker über den Hurrapatrioten im Kriege zum vulgären Reaktionär - sieht Volkert ein Thoma-Wort. Im Juni 1921 schrieb der Bayer an seine Geliebte: Er habe schon mit den Ministern des alten Systems Krieg geführt, er sei das Raufen gewohnt, es mache ihm nun Spaß, »grobe Steine in den Berliner Entenpfuhl« zu schmeißen.
An die Geliebte schrieb er auch: »Ich bin wirklich kein Antisemit, so sehr ich die ostjüdische Kulturfeindlichkeit hasse. Außerdem hoffe ich ja der jüdischen Rasse mein Liebstes zu verdanken« - sie, die 17 Jahre jüngere Maidi von Liebermann, Gattin eines Berliner Kaufmanns.
Der Judenhasser und die Jüdin, der Kampf um sie gegen den scheidungsunwilligen Gatten, auch einen Juden: Für Historiker, Philologen und Psychoanalytiker ist der Klotz aus Bayern tatsächlich noch ein harter Brocken. Nur: Unbekannt, »bis heute ein Gerücht« ("Die Zeit") waren Thomas Sudeleien im »Miesbacher Anzeiger« keineswegs.
Gerechte Empörung etwa herrscht im Bayerischen Rundfunk über Münchner Kabarettisten und Schauspieler, die sich jetzt erst, in der Münchner »AZ«, ihrer »Ludwig-Thoma-Medaillen« genieren: Hatte das weißblaue Radio in der Sendereihe »Land und Leute« nicht schon im Dezember 1985 Thomas Alterswahn enthüllt?
Ein Berufskollege des schreibenden Advokaten Thoma, der Münchner Rechtsanwalt Otto Gritschneder, wandelt seit langem kenntnisreich auf den wirren Spuren seines Landsmanns. Im Bayern-Radio förderte er die »Miesbacher«-Pamphlete ausführlich zu Tage, im Jahr darauf gedruckt in einer Beilage der »Süddeutschen Zeitung«.
Thoma habe, sagt Gritschneder, »am Ende seiner geistigen Orientierung gestanden«, an der Magenkrankheit und der »krankhaften Liebesbeziehung« gelitten, an der Ebbe in seiner literarischen Schatulle; das »widerspruchsvolle Verhalten eines schreibwütigen Mannes« könne man »nur psychologisch erklären«.
In einem Brief an Münchens Oberbürgermeister Kronawitter hat Margarete Bause, Landtagsabgeordnete der Grünen, letzte Woche Remedur gefordert: In »Lena-Christ-Medaille« solle die Auszeichnung umbenannt werden, nach der Münchner Arme-Leute-Schriftstellerin. Der Stifter der »Ludwig-Thoma-Medaille« kann dazu nichts mehr sagen; Hans Hellmut Kirst, der »08/15«-Autor, ist seit einem halben Jahr tot.