Zur Ausgabe
Artikel 67 / 82

AUTOMOBILE / CORVETTE STINGRAY Aus dem Vollen

aus DER SPIEGEL 21/1970

Der Dieb kam zu Fuß. Unter Hunderten von fabrikneuen Autos traf er sachkundig seine Wahl. Er rollte in einem 38 951 Mark teuren Luxus-Sportwagen mit Kunststoffkarosserie davon, den Autotester Fritz Busch einst als »größten Puppenfänger aller Zeiten' eingestuft hatte.

Auf diese Weise kam den Managern der Hamburger General-Motors-Filiale am vorvergangenen Wochenende ein Automobil abhanden, das sie nicht ohne weiteres ersetzen können. Es war das erste 1970er-Kabriolett des amerikanischen Sportwagens Chevrolet Corvette Stingray, das der Autokonzern General Motors nach Deutschland verfrachtete.

Der Stingray (Stachelrochen) ist Amerikas einziger vollgültiger Sportwagen. Wer ihn erwerben will, muß drei bis vier Monate auf die Lieferung warten.

Gleichwohl konnte General Motors jüngst zwei Weltrekorde seiner Corvette-Produktion melden. Der Corvette Stingray, dessen erster Typ im Jahre 1953 auf die Straße kam, ist mit über 250 000 Stück der meistgebaute Sportwagen der Welt und erzielte zugleich auch die höchste Auflage aller Kunststoffautos.

In Amerika haben sich Corvette-Besitzer in bislang 219 Corvette-Clubs organisiert, wo sie Rallye-Wettbewerbe und Rennen abhalten. Sie lesen eine eigene Zeitschrift, die zweimal monatlich mit über 100 000 Exemplaren Auflage erscheinende »Corvette News«.

Die Konstruktion des Corvette geht zurück auf eine Idee des Chevrolet-Ingenieurs Zora Arkus-Duntov. Als Anfang der fünfziger Jahre immer mehr amerikanische Automobilisten ihre Liebe zum Sportwagen entdeckten, konnten sie ihre Träume nur bei europäischen Importmarken verwirklichen. Europas Sportwagen aber waren fast ausnahmslos ungewöhnlich teuer und boten zumeist nur minimalen Kundendienst.

Arkus-Duntov entwickelte einen All-American-Sportzweisitzer mit einem herkömmlichen, jedoch kürzeren und härter gefederten Fahrgestell, das er mit einer Karosserie aus Kunststoff und zahlreichen Serien-Aggregaten aus der Chevrolet-Produktion vereinigte. Trotz bescheidener Motorkraft von 150 PS fand Amerikas erster neuzeitlicher Sportwagen gleich so viel Anklang, daß General Motors 1953 für den Corvette in St. Louis ein eigenes Produktionswerk errichtete.

Durch Entwicklung immer modernerer Fahrwerke und Einbau immer stärkerer Motoren entwickelte sich der Corvette (seit 1963: Corvette Stingray) innerhalb weniger Jahre zu einem Vollblut-Sportwagen mit respekteinflößendem Temperament und üppigem Bedienungskomfort Detroiter Zuschnitts. Noch heute ist der Stingray das einzige Automobil der US-Produktion mit unabhängiger Radaufhängung. Als beliebteste, auch von deutschen Stingray-Käufern bevorzugte Version erwies sich das Modell mit 7,4-Liter-Achtzylindermotor, der mit 293 PS (DIN) fast soviel Kraft hat wie acht VW Käfer 1300. »Keine europäische Automobilfabrik brauchte sich seiner zu schämen«, schrieb »Auto, Motor und Sport« über den Stingray, der in weniger als sechs Sekunden 100 km/h und geradeaus mühelos 225 km/h erreicht.

Die bisher rund 250 deutschen Stingray-Käufer, unter ihnen vornehmlich Ärzte, Künstler, Gastronomen und höher dotierte Zeitungsleute wie etwa »Bild«-Chef Peter Boenisch, haben auf den Autobahnen fraglos mehr Freude am Detroiter Stachelrochen als die von Geschwindigkeitsbegrenzungen eingeengten amerikanischen Stingray-Fahrer. Daß freilich unter den extremen Bedingungen eines Rennens ein scharfer Stachel allein häufig nicht ausreicht, zeigte sich erst vorletzten Sonntag wieder beim internationalen Flugplatzrennen im niedersächsischen Faßberg. Donnernd fuhr ein auf 600 PS hochfrisierter Stingray auf den Geraden allen Gegnern wie eine Rakete davon. Doch in den Kurven hatte der Fahrer mit dem 1,5 Tonnen schweren Frontmotor-Monstrum seine Not. Ein nur 960 Kilogramm schwerer Porsche 911 5 mit nur 250 PS setzte ihm Runde um Runde zu, überholte ihn in der letzten Kurve und siegte mit ein paar Metern Vorsprung. Stingray-Rennfahrer Curt Wetzel über seinen ungefügen Koloß: »Das ist eben eine ziemliche Handvoll Auto.«

General Motors hat bereits einen leichteren Prototyp entwickelt, der 1972 auf den Markt kommen und bei Rennen den wendigeren, leichteren Porsches auch in Kurven davonfahren soll. Er hat, als erstes US-Automobil, den Motor an der für optimales Fahrverhalten günstigsten Stelle: In der Mitte.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 67 / 82
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren