Es ist noch nicht lange her, da lebte Europa im Schatten des dritten Weltkriegs. Zwei nuklear bewaffnete Supermächte standen sich unversöhnlich gegenüber, und das geteilte Deutschland war die Nahtstelle dieser Konfrontation. Die Ängste, die dieser labile Zustand auslöste, sind heute schon halb vergessen. An die Stelle des Kalten Krieges ist eine Neue Weltunordnung getreten, die unter dem Signum des Bürgerkrieges steht. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts ist er zur dominierenden Form des bewaffneten Konflikts geworden. Gegenwärtig werden auf der ganzen Welt 30 bis 40 offene Bürgerkriege geführt, und alles deutet darauf hin, daß ihre Zahl in Zukunft nicht ab-, sondern zunehmen wird.
Niemand war auf diese radikale Veränderung gefaßt. Niemand weiß Rat. Es ist möglich, daß wir es mit einem neuen Aggregatzustand der Politik zu tun haben.
Nicht als wäre der Bürgerkrieg als solcher ein Novum. Vom schwersten und langwierigsten, den es erlebte, hat sich unser Land wahrscheinlich nie ganz erholt. Doch wurde der Dreißigjährige Krieg immerhin von staatlichen Mächten angezettelt und geführt, auch wenn sie die Kontrolle über ihre Truppenteile nach und nach einbüßten.
Das gilt für die meisten großen Bürgerkriege der Vergangenheit: den Kampf des amerikanischen Südens gegen den Norden, den der Weißen gegen die Roten in Rußland, den der spanischen Falange gegen die Republikaner. In all diesen Fällen gab es zentrale Befehlsinstanzen, regelrechte Heere und Fronten, und jedesmal endete der Konflikt mit der Durchsetzung eines neuen Regimes, einer Staatsgewalt, die das umkämpfte Territorium beherrschte.
Ob die heutigen Bürgerkriege eine solche Aussicht eröffnen, ist sehr die Frage. Bis vor kurzem, zu Zeiten der Entkolonialisierung und des Kalten Krieges, erschienen die internen Konflikte noch larviert als revolutionäre Aufstände, als nationale Befreiungskämpfe oder als Stellvertreterkriege der Weltmächte. Erst seitdem diese Epoche 1989 zu Ende gegangen ist, zeigen sie ihr wahres Gesicht. Um sie zu schüren, bedarf es keiner auswärtigen Mächte mehr. Sie scheinen sich spontan, von innen heraus zu entzünden.
Mit der Sowjetunion ist das letzte große Imperium zusammengebrochen. Die übrigen Mächte haben begriffen, daß der Krieg, aufs Ganze gesehen, kein gutes Geschäft ist. Deshalb greifen sie in lokale Konflikte, wenn ihre unmittelbaren Interessen nicht bedroht sind, nur äußerst widerwillig ein. Sie delegieren das Problem an internationale Organisationen, die, selber mehr oder weniger hilflos, zu helfen und zu vermitteln suchen.
Der Bürgerkrieg in Afghanistan gibt hierfür ein klares Beispiel ab. Solange das Land von sowjetischen Truppen besetzt war, ließ er sich ohne weiteres nach dem Schema des Kalten Krieges interpretieren. Von beiden Seiten wurde der Konflikt instrumentalisiert: Moskau unterstützte seine Statthalter, der Westen die Mudschahidin. Um nationale Befreiung, um Widerstand gegen die Fremden, die Unterdrücker, die Ungläubigen schien es zu gehen.
Kaum aber waren die Okkupanten vertrieben, da brach der wahre Bürgerkrieg aus. Von der ideologischen Hülle blieb nichts mehr übrig. Die ausländische Einmischung, die Integrität der Nation, der wahre Glauben - das alles erwies sich als bloßer Vorwand. Der Krieg aller gegen alle nahm seinen Lauf.
Ähnliche Entwicklungen sind überall zu beobachten, in Afrika, in Indien, in Südostasien, in Lateinamerika. Vom heroischen Heiligenschein der Guerrilleros ist nichts übriggeblieben. Einst ideologisch hochgerüstet und mit fremden Verbündeten im Rücken, die sich ihrer bedienten, haben sich Guerilla und Antiguerilla verselbständigt. Übriggeblieben ist der bewaffnete Mob.
Alle diese selbsternannten Befreiungsarmeen, Volksbewegungen und Fronten sind zu marodierenden Banden degeneriert, die von ihren Gegenspielern kaum zu unterscheiden sind. Das wirre Alphabet, mit dem sie sich schmücken, FNLA oder FLNS, MPLA oder FMLN, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie kein Ziel, kein Projekt, keine Idee zusammenhält, sondern eine Strategie, die diesen Namen kaum verdient, denn sie heißt: Raub, Mord und Plünderung.
Wir blicken auf die Weltkarte. Wir lokalisieren die Kriege in entfernten Gegenden, am besten in der Dritten Welt. Wir sprechen von Unterentwicklung, Ungleichzeitigkeit, Fundamentalismus. Es kommt uns so vor, als spiele sich der unverständliche Kampf in großer Entfernung ab. Aber das ist eine Selbsttäuschung.
In Wirklichkeit ist der Bürgerkrieg längst in die Metropolen eingewandert. Seine Metastasen gehören zum Alltag der großen Städte, nicht nur in Lima und Johannesburg, in Bombay und Rio, sondern auch in Paris und Berlin, in Detroit und Birmingham, in Mailand und Hamburg. Geführt wird er nicht nur von Terroristen und Geheimdiensten, Mafiosi und Skinheads, Drogengangs und Todesschwadronen, Neonazis und Schwarzen Sheriffs, sondern auch von unauffälligen Bürgern, die sich über Nacht in Hooligans, Brandstifter, Amokläufer und Serienkiller verwandeln. Wie in den afrikanischen Kriegen werden diese Mutanten immer jünger.
Wir machen uns etwas vor, wenn wir glauben, es herrsche Frieden, nur weil wir immer noch unsere Brötchen holen können, ohne von Heckenschützen abgeknallt zu werden. Der Bürgerkrieg kommt nicht von außen, er ist kein eingeschleppter Virus, sondern ein endogener Prozeß.
Begonnen wird er stets von einer Minderheit; wahrscheinlich genügt es, wenn jeder hundertste ihn will, um ein zivilisiertes Zusammenleben unmöglich zu machen. Noch gibt es in den Industrieländern eine Mehrheit von Zivilisten. Unsere Bürgerkriege haben bisher nicht die Massen ergriffen, sie sind molekular. Sie können aber, wie das Beispiel von Los Angeles zeigt, jederzeit eskalieren und zum Flächenbrand werden.
Aber kann man das vergleichen? Den Tschetnik mit dem Gebrauchtwarenhändler, der in Texas, mit einer Maschinenpistole bewaffnet, auf einen Turm steigt und in die Menge schießt? Den Bandenführer in Liberia mit dem Skin, der seine Bierflasche auf dem Kopf eines unbeteiligten Rentners zertrümmert? Den Berliner Autonomen mit dem Dschungelkrieger von Kambodscha? Die tschetschenische Mafia mit dem Leuchtenden Pfad? Und dies alles mit der Normalität einer deutschen, schwedischen, französischen Kleinstadt? Ist die Rede vom Bürgerkrieg eine leere Verallgemeinerung, ist sie bloße Panikmache?
Ich fürchte, daß es - über alle Unterschiede hinweg - einen gemeinsamen Nenner gibt. Das ist, zum einen, der autistische Charakter der Täter und, zum anderen, ihre Unfähigkeit, zwischen Zerstörung und Selbstzerstörung zu unterscheiden. In den Bürgerkriegen der Gegenwart ist jede Legitimation verdampft. Die Gewalt hat sich von allen ideologischen Begründungen befreit.
Im Vergleich zu den heutigen waren frühere Täter gläubige Menschen. Sie legten den größten Wert darauf, im Namen irgendwelcher Ideale zu töten und zu sterben. An dem, was man früher eine Weltanschauung nannte, mochte diese auch noch so abscheulich sein, hielten sie »eisern«, »fanatisch«, »unverbrüchlich« und so weiter fest. Mit leuchtenden Augen folgten die Anhänger Hitlers und Stalins den Evangelien ihrer Führer, und wenn es um die Sache ging, war ihnen kein Verbrechen zu groß.
Noch die Guerrilleros und die Terroristen der sechziger und siebziger Jahre hielten es für nötig, sich zu rechtfertigen. In Flugblättern und Proklamationen, in pedantischen Katechismen und bürokratisch formulierten Geständnissen gaben sie für das, was sie anrichteten, ihre ideologischen Begründungen ab. Den heutigen Tätern scheint das alles entbehrlich. Was an ihnen auffällt, ist das vollständige Fehlen aller Überzeugungen.
Den Bürgerkriegskämpfern Lateinamerikas fällt es nicht schwer, die Bauern abzuschlachten, die sie angeblich befreien wollen; Bündnisse mit Drogenbaronen und Geheimdiensten sind für sie nicht problematisch, sondern selbstverständlich. Der irische Terrorist benutzt Rentner als lebende Bomben und sprengt Kinderwagen in die Luft. Die bevorzugten Opfer heutiger Bürgerkriege sind Frauen und Kinder. Nicht nur der Tschetnik ist stolz darauf, die Insassen eines Krankenhauses zu massakrieren; überall geht es vor allem darum, Wehrlose aus der Welt zu schaffen. Wer keine Maschinenpistole hat, gilt als Ungeziefer. Es ist übrigens auch eine neue Männlichkeit, die hier zum Vorschein kommt. Ihre Ehre heißt Feigheit.
Das alles gilt natürlich auch für die Kriege, die im Namen irgendwelcher Nationalitätenkonflikte ausgetragen werden. Es handelt sich dabei um bloße Fetzen aus dem historischen Kostümfonds. Was die Propagandisten vorbringen, stammt aus zweiter und dritter Hand; der ideologische Müll soll Überzeugungen simulieren, doch zeigt schon der flüchtige Blick auf die Realität, daß die Banden keinen Vorwand brauchen. Das Selbstbestimmungsrecht, von dem sie reden, ist das Recht zu bestimmen, wer auf einem bestimmten Territorium überleben darf und wer nicht; es geht um die Vernichtung »unwerten Lebens«, das ist alles.
Übrigens könnte den angolanischen, somalischen, kambodschanischen Bürgerkriegern nichts gleichgültiger sein als das Los ihrer angeblichen Blutsverwandten, und sie finden nichts dabei, sie zu ruinieren, in die Luft zu jagen, ans Messer zu liefern.
Auch vor dem molekularen Bürgerkrieg der Metropolen versagen die herkömmlichen Erklärungsmuster. Die Bandenkriege in den nordamerikanischen Ghettos haben mit dem historischen Klassenkampf nichts mehr zu tun. Dort schießen Verlierer auf Verlierer.
Und nun zu unseren eigenen Teilnehmern am molekularen Bürgerkrieg. Man nennt sie Rechtsradikale oder Neonazis; damit glaubt man zu wissen, was von ihnen zu halten ist. Aber auch hier ist die Ideologie bloße Maskerade. Der jugendliche Mörder, der Jagd auf Wehrlose macht, gibt, nach seinen Motiven gefragt, folgende Auskünfte: »Ich habe mir nichts dabei gedacht.« »Mir war langweilig.« »Die Ausländer waren mir irgendwie unangenehm.«
Das genügt. Vom Nationalsozialismus weiß er nichts. Die Geschichte interessiert ihn nicht. Hakenkreuz und Hitler-Gruß sind beliebige Requisiten. Seine Klamotten-, Musik- und Videokultur ist durch und durch amerikanisch. Die Reichskriegsflagge wird mit Jeans und T-Shirt getragen. Als Skinhead gibt sich der Schläger einen englischen Namen, auf den er stolz ist. »Deutschtum« ist ein Slogan ohne jeden Inhalt, der nur dazu dient, die Leerstellen im Gehirn zu besetzen.
Ebensogut wie Türken oder Vietnamesen könnte er Krüppel, Obdachlose, Debile, Greisinnen oder Schulkinder »klatschen« oder auch, wenn er dazu nicht zu feige wäre, West- oder Ostdeutsche, je nach der Geographie des Kaffs, in dem er sich volldröhnt. Vor die Wahl zwischen Deutschtum und Motorrad, Vaterland oder Disco gestellt, dürfte ihm die Entscheidung nicht schwerfallen. Da ihm die eigene Zukunft nichts gilt, kann es nicht wundernehmen, daß ihm auch das eigene Land vollkommen Wurst ist.
In einem alten Buch kann man folgendes darüber lesen: _____« An Haß hat es vermutlich niemals in der Welt gefehlt; » _____« aber . . . (nun) wuchs er zu einem entscheidenden » _____« politischen Faktor in allen öffentlichen Angelegenheiten » _____« heran . . . Der Haß konnte sich auf niemand und nichts » _____« wirklich konzentrieren; er fand niemanden vor, den er » _____« verantwortlich machen konnte - nicht die Regierung und » _____« nicht die Bourgeoisie und nicht die jeweiligen Mächte des » _____« Auslandes. So drang er in alle Poren des täglichen Lebens » _____« und konnte sich nach allen Richtungen verbreiten, konnte » _____« die phantastischsten, unvorhersehbarsten Formen annehmen » _____« . . . Hier war jeder gegen jeden und vor allem gegen » _____« seinen Nachbarn . . . » _____« Was die modernen Massen von dem Mob unterscheidet, ist » _____« die Selbstlosigkeit und Desinteressiertheit am eigenen » _____« Wohlergehen . . . Selbstlosigkeit, nicht als Güte, » _____« sondern als Gefühl, daß es auf einen selbst nicht » _____« ankommt, daß das eigene Selbst jederzeit und überall » _____« durch ein anderes ersetzt werden kann . . . Dies Phänomen » _____« eines radikalen Selbstverlusts, diese zynische oder » _____« gelangweilte Gleichgültigkeit, mit der die Massen dem » _____« eigenen Tod begegneten, war ganz unerwartet . . . Sie » _____« leiden an einem radikalen Schwund des gesunden » _____« Menschenverstandes und seiner Urteilskraft sowie an einem » _____« nicht minder radikalen Versagen der elementarsten » _____« Selbsterhaltungstriebe. »
Hannah Arendt sprach von der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Sie beschrieb die Massenbasis für die Entstehung der totalitären Systeme. Die Aktualität ihrer Analyse liegt auf der Hand. Aber im Unterschied zu den dreißiger Jahren brauchen die Täter von heute keine Rituale, keine Aufmärsche, keine Uniformen mehr, weder Programme noch Verheißungen und Treueschwüre.
Auch auf einen Führer können sie verzichten. Der Haß genügt. War der Terror damals ein Monopol des totalitären Regimes, so kehrt er heute in entstaatlichter Form wieder. Gestapo und GPU sind überflüssig, wenn ihre infantilen Klone die Sache selbst in die Hand nehmen.
Auf diese Weise kann jeder U-Bahn-Wagen zu einem Bosnien en miniature werden. Für das Pogrom sind keine Juden, für die Säuberung keine Konterrevolutionäre mehr nötig. Es genügt, daß einer einen anderen Fußballklub bevorzugt, daß sein Gemüseladen besser geht als der nebenan, daß er anders angezogen ist, daß er eine andere Sprache spricht, daß er ein Kopftuch trägt oder einen Rollstuhl braucht. Jeder Unterschied wird zum lebensgefährlichen Risiko.
Aber die Aggression richtet sich nicht nur gegen die andern, sondern auch gegen das eigene Leben. Es ist, als wäre es, mit den Worten von Hannah Arendt, den Tätern einerlei, nicht nur, ob sie leben oder sterben, sondern, ob sie je geboren wurden oder nie das Licht der Welt erblickten. So groß der genetische Pool an Dummheit auch sein mag, er reicht nicht aus, die gewaltförmige Selbstzerstörung zu erklären. Denn der Nexus von Ursache und Wirkung ist so evident, daß ihn jeder Fünfjährige begreifen kann.
Das Gejammer über den Verlust von Arbeitsplätzen geht mit Pogromen einher, die es jedem vernunftbegabten Kapitalisten unsinnig erscheinen lassen, dort zu investieren, wo niemand mehr seines Lebens sicher ist. Der dümmste serbische Präsident weiß ebenso wie der dümmste Rambo, daß der Bürgerkrieg, den sie führen, das eigene Land in eine ökonomische Wüste verwandeln muß. Der einzig mögliche Schluß ist, daß die kollektive Selbstverstümmelung nicht ein Nebeneffekt ist, der in Kauf genommen wird, sondern das eigentliche Ziel.
Die Kämpfer wissen sehr wohl, daß sie nur verlieren können, daß es keinen Sieg gibt. Sie tun alles, was in ihrer Macht steht, um ihre Lage bis ins Extrem zu verschärfen. Sie wollen nicht nur die andern, sondern auch sich selber in »den letzten Dreck« verwandeln.
Ein französischer Sozialarbeiter berichtet aus der Banlieue von Paris: _____« Sie haben schon alles kaputtgemacht, die Briefkästen, » _____« die Türen, die Treppenhäuser. Die Poliklinik, wo ihre » _____« kleinen Brüder und Schwestern gratis behandelt werden, » _____« haben sie demoliert und geplündert. Sie erkennen » _____« keinerlei Regeln an. Sie schlagen Arzt- und » _____« Zahnarztpraxen kurz und klein und zerstören ihre Schulen. » _____« Wenn man ihnen einen Fußballplatz einrichtet, sägen sie » _____« die Torpfosten ab. »
Die Bilder vom molekularen und vom makroskopischen Bürgerkrieg gleichen sich bis ins Detail. Ein Augenzeuge gibt wieder, was er in Mogadischu gesehen hat. Dieser Reporter war dabei, wie eine Bande von Bewaffneten ein Hospital zertrümmerte. Das war keine militärische Aktion. Niemand bedrohte die Männer, Schüsse waren in der Stadt nicht zu hören. Das Krankenhaus war bereits schwer beschädigt und nur noch mit dem Nötigsten ausgestattet.
Die Täter gingen mit wütender Gründlichkeit vor. Betten wurden aufgeschlitzt, Flaschen mit Blutserum und mit Medikamenten zerschmettert; dann machten sich die Bewaffneten in ihren verdreckten und zerschlissenen Tarnanzügen über die wenigen Apparate her. Sie waren erst zufrieden, als das einzige Röntgengerät, der Sterilisator und der Sauerstoffapparat unbrauchbar gemacht waren.
Jeder von diesen Zombies wußte, daß ein Ende der Kämpfe nicht abzusehen war; jeder wußte, daß schon am nächsten Tag sein Leben davon abhängen würde, ob ein Arzt da wäre, der ihn zusammenflicken könnte. Es ging ihnen offenbar darum, auch noch die geringste Überlebenschance zu vernichten. Man könnte das die reductio ad insanitatem nennen. Im kollektiven Amoklauf ist die Kategorie der Zukunft verschwunden. Es gibt nur noch die Gegenwart. Konsequenzen existieren nicht mehr. Das Regulativ der Selbsterhaltung ist außer Kraft gesetzt.
Damit erreicht der Bürgerkrieg eine neue Qualität. Er wird zum Retrovirus des Politischen. So lange wir denken können, wurde Politik immer als eine Auseinandersetzung betrachtet, bei der es um Interessen ging, als ein immerwährender Kampf um Macht, um Ressourcen und Zukunftschancen. Und obwohl dieses Spiel der Interessen selten unblutig und stets unberechenbar verlief, blieben doch wenigstens die Absichten der Beteiligten mehr oder weniger kalkulierbar.
Wo dagegen weder dem eigenen noch dem Leben der andern irgendein Wert beigemessen wird, ist das nicht mehr möglich, und jedes politische Denken, von Aristoteles und Machiavelli bis zu Marx und Weber, wird aus den Angeln gehoben. In einer Welt, durch die lebende Bomben irren, bleibt nur der Hobbessche Urmythos vom Kampf aller gegen alle übrig.
Noch nie war soviel von den Menschenrechten die Rede wie heute; noch nie war die Zahl derer, die sie bestenfalls vom Hörensagen kennen, so groß. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, von der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1948 ohne Gegenstimmen verabschiedet, bietet in einer Präambel und in 30 Artikeln einen langen Katalog von politischen und sozialen Rechten dar. Die kommunistischen Staaten, Südafrika und Saudi-Arabien enthielten sich damals der Stimme, was immerhin als kleiner Tribut an die Wahrheit gelten kann.
Alle anderen Staaten, auch jene, in denen Verfolgung und Zensur, Unterdrückung und Folter an der Tagesordnung waren, unterschrieben den Text, ohne zu zögern. Auch heute wird man in der Generalversammlung mit vielen Diktaturen zu rechnen haben; die Demokratien stellen zwar eine knappe Mehrheit dar, doch von den westlichen haben die meisten in den Jahrzehnten, die seit 1948 vergangen sind, selber Kolonialkriege geführt und terroristische Regimes unterstützt. Vier Fünftel der Weltbevölkerung leben unter Verhältnissen, die der Rhetorik jener Deklaration hohnsprechen; Jahr für Jahr kommen fast hundert Millionen dazu, deren Aussichten nicht besser, sondern noch weitaus schlechter sind als die ihrer Eltern.
Die Europäer und Nordamerikaner haben es sich selber zuzuschreiben, wenn die Welt sie beim Wort nimmt; denn sie sind es, die im Laufe der letzten 200 Jahre die Menschenrechte proklamiert haben. Es sind Postulate, die ausnahmslos und ohne Unterschied für alle gelten sollen. Ihr Universalismus kennt keine Differenz von Nähe und Ferne; er ist unbedingt und abstrakt. Die Verpflichtung, die sie jedermann auferlegen, ist prinzipiell grenzenlos. Daran zeigt sich ihr theologischer Kern, der alle Säkularisierungen überstanden hat. Jeder soll für alle verantwortlich sein; in diesem Verlangen ist die Pflicht enthalten, Gott ähnlich zu werden, denn es setzt Allgegenwart, ja, Allmacht voraus. Da aber alle unsere Handlungsmöglichkeiten endlich sind, öffnet sich die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer weiter. Bald ist die Grenze zur objektiven Heuchelei überschritten; dann erweist sich der Universalismus als moralische Falle.
Überall, heißt es, finden fortwährend Massaker statt, Menschen verhungern, werden vertrieben, gefoltert, vergewaltigt, und ihr seht tatenlos zu, geht euren alltäglichen Beschäftigungen nach, legt die Hände in den Schoß . . . Das ist kein stummer, es ist ein sehr beredter Vorwurf. Er richtet sich an die Regierungen, aber auch an die Frau in der U-Bahn, an die großen Mächte ebenso wie an die kleinen Leute.
Unzweifelhaft ist, daß wir alle zu Zuschauern geworden sind. Das unterscheidet uns von früheren Menschen, die, wenn sie nicht selbst Opfer, Täter oder Augenzeugen waren, bloß Gerüchte vernahmen, schwarze oder weiße Legenden. Was anderswo geschah, wußte man nur vom Hörensagen.
Noch um die Mitte des 20. Jahrhunderts erfuhr die Öffentlichkeit wenig oder nichts von den größten Verbrechen der Epoche. Hitler und Stalin taten alles, um ihre Taten geheimzuhalten. Der Massenmord war Geheime Reichssache. In den Vernichtungslagern gab es keine Fernsehkameras.
Heute dagegen sind die Mörder gerne bereit, sich interviewen zu lassen, und die Medien sind stolz darauf dabeizusein, wo getötet wird. Der Bürgerkrieg wird zur Fernsehserie. Die Reporter erfüllen nur ihre Informationspflicht; sie demonstrieren uns, schonungslos, wie es heißt, was der Fall ist, und der Kommentator steuert die notwendige Empörung bei.
Aber unvermeidlich mischt sich der Anklage eine andere, unterschwellige Botschaft bei. Sie besagt, daß der Schrecken das Gewöhnliche ist und daß das Undenkbare jederzeit und überall getan werden kann. Warum also nicht auch hier? Jeder Polizist kennt die Figur des Nachahmungstäters. Er ist heute zu einem politischen Faktor geworden. Insofern betreiben die Medien, ob sie wollen oder nicht, immer auch Propaganda für die Tat, von der sie berichten.
Wen der Terror der Bilder nicht zum Terroristen macht, den macht er zum Voyeur. Jeder von uns sieht sich auf diese Weise einer permanenten moralischen Erpressung ausgesetzt. Denn nur wer zum Augenzeugen gemacht wird, kann als Adressat der vorwurfsvollen Frage dienen, was er denn gegen das, was ihm gezeigt wird, unternehme. So erhebt sich das korrupteste aller Medien, das Fernsehen, zur moralischen Instanz.
Die an alle und jeden gerichtete Zumutung, etwas zu tun - aber was? - und einzugreifen - aber wie? -, hat allerhand undurchschaute Folgen. Sie wendet sich an jenes Wir, das die Menschenrechte proklamiert und das schlechte Gewissen erfunden hat, also an den Westen: an jene Gegend der Welt, die als reich gilt und die sich nach wie vor für zivilisiert hält. Die Moral ist die letzte Zuflucht des Eurozentrismus.
Wer einmal versucht hat, mit einem Kurden oder einem Tamilen die Probleme Nordirlands oder des Baskenlandes zu diskutieren, der weiß, daß er dabei auf Verständnislosigkeit stoßen wird. Die Gegenfrage, mit der er zu rechnen hat, lautet: Was gehen mich eure Geschichten an? Und besten Gewissens wird der Mann aus Asien versichern, er hätte andere Sorgen. Man sollte sich hüten, ihm das Recht auf diese Antwort abzusprechen.
Denn auch wer in Ohio, Piemont oder Hessen lebt, wird sich hoffnungslos überfordert fühlen angesichts der unverständlichen Schießereien auf seinem Bildschirm. Schon die bloße Menge an Informationen, mit denen er bombardiert wird, widersetzt sich jeder sinnvollen Verarbeitung.
Niemand, der kein Spezialist ist, kann sich die 150 Völkerschaften merken, die der Zerfall der Sowjetunion freigesetzt hat. Gleichwohl mutet die »Tagesschau« jeder Verkäuferin aus dem Supermarkt zu, zwischen Inguschen und Tschetschenen, Georgiern und Abchasen zu unterscheiden. Berg-Karabach steht seit Jahren auf der Tagesordnung, und wir sind gezwungen, uns an Hand von verstümmelten Leichen ein Bild von dieser Gegend zu machen. Wir sollen uns die Namen von Gangstern merken, die wir kaum aussprechen können, und uns um islamische Sekten, afrikanische Milizen und kambodschanische Fraktionen kümmern, deren Beweggründe uns unverständlich sind und bleiben. Wer dazu nicht fähig ist, gilt als hartherziger Ignorant und als egoistischer Wohlstandsbürger, dem es gleichgültig ist, wenn andere leiden.
Die Empfänger dieser Botschaft sind verunsichert. Manche werden von Schuldgefühlen heimgesucht. Wenn sie sich die Hilfe nicht zum Beruf machen, sind ihre Handlungsmöglichkeiten eng begrenzt. Viele spenden. Ihnen wird entgegengehalten, sie hätten es nur auf ein moralisches Alibi abgesehen. Wohltätigkeit sei ein bloßes Palliativ, ein Entlastungsmanöver, mit dem sich jeder auf billige Weise ein gutes Gewissen verschaffen könne. Wie man es den Predigern der Tugend recht machen könnte, verraten sie nicht.
Eine Pädagogik, die ihre Schäfchen durch die Steigerung der Dosis zu sensibilisieren glaubt, ist im besten Fall naiv. Sie wird ihre Adressaten im Gegenteil immun machen gegen jede Regung des Gewissens. Die psychische und kognitive Überforderung schlägt zurück. Der Zuschauer fühlt sich unzuständig und ohnmächtig; er igelt sich ein, schaltet ab. Die Botschaften werden abgewehrt oder verleugnet. Diese Form der inneren Notwehr ist nicht nur verständlich. Sie ist unvermeidlich; denn wie eine »richtige« Reaktion auf den täglichen Massenmord aussehen sollte, weiß niemand zu sagen.
Aber auch das ist noch nicht alles. Der Begriff der paradoxen Reaktion ist aus der Pharmakologie bekannt: Ein falsch angewandtes oder falsch dosiertes Mittel kann das Gegenteil der gewünschten Wirkung haben. Moralische Forderungen, die in keinem Verhältnis zu den Handlungsmöglichkeiten stehen, führen am Ende dazu, daß die Geforderten streiken und jede Verantwortung leugnen. Darin liegt der Keim einer Barbarisierung, die sich bis zur wütenden Aggression steigern kann.
Überfordert sind nicht nur die Leute, sondern auch die politischen Systeme. Es gibt bisher keinen internationalen Mechanismus zur Eindämmung der sich vermehrenden Bürgerkriege. Weder die klassische Außenpolitik noch die Weltorganisation ist dazu in der Lage, ganz zu schweigen von der Europäischen Gemeinschaft. Auch diesen Akteuren wird jeden Tag vorgeworfen, daß sie nicht überall eingreifen. Bereits heute sind in über 15 Ländern Blauhelme stationiert. Die politischen Kosten sind astronomisch, die Mandate widersprüchlich, die Erfolge zweifelhaft. Soweit die Ursachen der Konflikte überhaupt rational faßbar sind, können sie durch die Friedensmissionen nicht beseitigt werden.
Jede Vermittlung setzt bei den Beteiligten den Willen voraus, Frieden zu schließen. Gewöhnlich überwiegt jedoch auf allen Seiten der Wunsch, den Krieg bis zur Selbstvernichtung fortzusetzen. Der Schlichter, der ihnen in den Arm fallen will, muß deshalb darauf gefaßt sein, daß sämtliche Bürgerkriegsbanden über ihn herfallen. Hilfsorganisationen werden routinemäßig bedroht, Versorgungskonvois überfallen und ausgeplündert. Vermittler werden verdächtigt und erpreßt, Helfer zu Geiseln genommen, Verhandlungen sabotiert; auf die Friedenstruppen wird scharf geschossen. Die Regierungen, die sie entsenden, billigen ihnen nicht einmal das Recht auf Selbstverteidigung zu, geschweige denn, daß sie ihre Ziele militärisch durchsetzen dürften.
Die Folge ist, daß alle, die sich an Interventionen beteiligen, mit jedem Tag an Autorität und Glaubwürdigkeit verlieren. Gleichwohl zieht jeder Einsatz die Forderung nach weiteren nach sich. Warum wird im Land X eingegriffen, während das Land Y sich selbst überlassen bleibt? Die Schuldzuweisungen eskalieren wie die Bürgerkriege; wer ihnen ausweicht, wird der Diskriminierung bezichtigt.
Zugleich ist die Grenze dessen erreicht, was die Regierungen der Interventionsmächte ihrer eigenen Bevölkerung politisch vermitteln können. Der Krieg in Jugoslawien hat gezeigt, daß nicht nur die Europäer weder willens noch fähig sind, den Frieden zu erzwingen; auch die Weltmacht USA ist nicht mehr fähig und bereit, die Rolle des universellen Polizisten zu übernehmen. Soviel Schuldgefühl, soviel Geld, so viele Soldaten wie nötig wären, um alle Bürgerkriege der Welt stillzulegen, gibt es nicht.
Es ist an der Zeit, sich von Allmachtsphantasien zu verabschieden. Auf die Dauer kommt niemand darum herum, kein Land und auch kein einzelner, den jeweils realisierbaren Grad seiner Verantwortung zu prüfen und Prioritäten zu setzen. Das ist schwierig und unangenehm. Es widerspricht unseren ideologischen Traditionen und stellt uns vor bittere Alternativen. Natürlich sieht sich, wer von der Relativität unserer Möglichkeiten spricht, sofort als Relativist an den Pranger gestellt. Doch insgeheim weiß jeder, daß er sich zuallererst um seine Kinder, seine Nachbarn, seine unmittelbare Umgebung kümmern muß. Selbst das Christentum hat immer vom Nächsten und nicht vom Fernsten gesprochen.
Daß die universelle Solidarität ein nobles Ziel ist, bestreitet niemand. Wer sie wirklich leisten will und kann, ist zu bewundern. Doch wie leicht sich der Anspruch darauf, jederzeit für das uferlos Gute einzustehen, mit der alltäglichen Barbarei verträgt, das zeigt der Blick auf das eigene Land. Es steht den Deutschen schlecht an, sich als Garanten des Friedens und als Weltmeister der Menschenrechte aufzuführen, solange deutsche Schläger- und Mordbrennerbanden Tag und Nacht Furcht und Schrecken verbreiten.
Für das Kaschmir-Problem können wir nicht einstehen; von dem Streit zwischen Sunniten und Schiiten, zwischen Tamilen und Singhalesen verstehen wir ziemlich wenig; was aus Angola werden soll, darüber müssen in erster Linie die Angolaner entscheiden. Und bevor wir den verfeindeten Bosniern in den Arm fallen, müssen wir den Bürgerkrieg im eigenen Land austrocknen. Nicht Somalia ist unsere Priorität, sondern Hoyerswerda und Rostock, Mölln und Solingen. Dazu reichen unsere Handlungsmöglichkeiten aus, das ist jedem einzelnen zuzumuten, dafür haben wir zu haften. _(Enzensberger, 63, ist Lyriker ) _(("verteidigung der wölfe") und Essayist; ) _(der frühere »Kursbuch«-Herausgeber ) _(bereichert mit seinen Polemiken seit ) _(mehr als drei Jahrzehnten auch die ) _(politische Debatte. )
Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz
Bosnische Mutter beweint das Skelett ihres Sohnes
Mutwillig zerstörte U-Bahn in Hamburg
Hitler und deutsche Jugendliche in Nürnberg (1938)
Englischer Soldat, katholische Kinder in Belfast (1979)
Solinger Protestversammlung nach dem Brandanschlag
»Unauffällige Bürger verwandeln sich über Nacht in Hooligans, Brandstifter, Amokläufer, Serienkiller und Heckenschützen.«
»Überall finden fortwährend Massaker statt, Menschen verhungern, werden vertrieben, gefoltert, vergewaltigt - und ihr seht tatenlos zu.«
»Auf diese Weise kann jeder U-Bahn-Wagen zu einem Bosnien en miniature werden.«
»Mit leuchtenden Augen folgten die Anhänger Hitlers und Stalins den Evangelien ihrer Führer, und ihnen war kein Verbrechen zu groß.«
»Der irische Terrorist benutzt Rentner als lebende Bomben und sprengt Kinderwagen in die Luft.«
»Nicht Somalia ist unsere Priorität, sondern Hoyerswerda und Rostock, Mölln und Solingen. Dafür haben wir zu haften.«
Enzensberger, 63, ist Lyriker ("verteidigung der wölfe") undEssayist; der frühere »Kursbuch«-Herausgeber bereichert mit seinenPolemiken seit mehr als drei Jahrzehnten auch die politischeDebatte.