Enttäuschung über Claudia Roths Fernbleiben »Einer hundertjährigen KZ-Überlebenden muss man schon in die Augen blicken«

Zeitzeugin Franz im April 2014 in der Talkshow von Markus Lanz
Foto: Future Image / IMAGOPhilomena Franz hat mehrere Konzentrationslager überlebt, darunter jene von Auschwitz und Ravensbrück. Wenn am 21. Juli 2022 in der kleinen bergischen Stadt Rösrath nun der 100. Geburtstag der Musikerin und Buchautorin gefeiert wird, dürfte das ein besonderer Tag werden, auch für dieses Land. Eigentlich wollte ihr sogar Kulturstaatsministerin Claudia Roth persönlich gratulieren, »vor Ort«, wie sie schrieb, nun nimmt sie die Gelegenheit doch nicht wahr.
Franz wird, so ist es geplant, auch selbst aus ihrem Leben erzählen, das auf so schreckliche Weise mit ihrer deutschen Heimat verbunden ist. 1922 kam sie in Biberach in Baden-Württemberg zur Welt, sie war Teil einer großen und erfolgreichen Musikerfamilie. Ihre Mutter hatte, so schilderte sie es einmal, auch jüdische Wurzeln und ihr Vater war ein Sinto. Mit ihrer Familie trat sie bereits als Kind auf, sang, tanzte, auch im Ausland.
Später aber wurde sie von den Nationalsozialisten verfolgt, sie musste die Mädchenoberschule in Stuttgart verlassen, wurde als Zwangsarbeiterin eingesetzt, 1943 ins KZ Auschwitz deportiert und mit der Kennzeichnung »Z 10550« tätowiert. Es blieb nicht das einzige Lager, in das man die junge Frau steckte, nach Auschwitz brachte man sie sogar noch ein zweites Mal. Dem SPIEGEL erzählte sie vor ein paar Jahren: »Wir mussten am Krematorium arbeiten. Ich kann es gar nicht sagen, wie hoch die Menschenasche da lag. Und die war wie Kiesel. Wir mussten sie wegschaufeln auf Lastwagen.«

Kulturstaatsministerin Roth
Foto: Britta Pedersen / dpaNahezu ihre gesamte Familie wurde von den Nazis ermordet. Franz, die Überlebende, wollte dem Vergessen etwas entgegensetzen, sie sprach vor Schülern und ebenso in Talkshows, schrieb Bücher, wurde mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Sie lebt in Bergisch-Gladbach, lange war Rösrath ihr Lebensmittelpunkt. Dort wurde 2021 auch das Philomena Franz Forum gegründet, das ihren Geburtstag nun zum Anlass nimmt, sie an zwei Tagen zu ehren: mit einem Poetischen Nachtgebet am Vorabend des Geburtstages und mit einer wissenschaftlichen Tagung zur Geschichte der Sinti und Roma in Deutschland sowie einem Konzert am 21. Juli.
Angebot eines Grußwortes
Ursprünglich hatte Kulturstaatsministerin Claudia Roth ihr Treffen in Aussicht gestellt. »Gerne möchte ich die Gelegenheit nutzen, um der Jubilarin vor Ort in Rösrath zu gratulieren«, hatte sie den Organisatoren im März geschrieben. Ob ihr eine Teilnahme an der Tagung terminlich möglich sein werde, könne sie so kurz nach Amtsantritt nicht absehen. Vor einigen Wochen erhielt das Forum dann die Mitteilung, dass Roth nicht kommen wird, weder zum Gratulieren noch zur Tagung.
Matthias Buth ist der Gründer des Philomena Franz Forums. Der Lyriker, Essayist und Jurist war früher selbst in der Kulturabteilung des Kanzleramts tätig. Dem SPIEGEL sagte er, eine Referentin Roths habe ihn telefonisch benachrichtigt, dass die Kulturstaatsministerin nicht käme. Ihm sei stattdessen ein Grußwort der Kulturstaatsministerin angeboten worden. Das aber habe er »dankend abgelehnt«. Seine Begründung dafür: »Einer hundertjährigen KZ-Überlebenden muss man schon in die Augen blicken. Diese Chance hat Frau Roth vertan.«
Dass Roth einen kurzen Beitrag für ein von ihm herausgegebenes Begleitbuch zur Tagung verfasst hat, reicht Buth nicht. Die Kulturstaatsministerin hätte mit ihrem Besuch ein »kulturpolitisches Zeichen« setzen können, sagt er. Niemand habe erwartet, dass sie dazu für die gesamte Dauer der Tagung bleibe.
Warum Roth nicht erscheint? Ein Sprecher der Kulturstaatsministerin teilt mit, Roth bedaure es außerordentlich, nicht kommen zu können. Als eine Zusage will er ihr Schreiben nicht verstanden wissen, diese »gab es allerdings zu keinem Zeitpunkt«. Doch habe sie sich an der Festschrift für Philomena Franz für diesen Anlass beteiligt.
Das Erinnern an die brutalen, systematischen Verbrechen des Naziregimes an den Sinti und Roma sei seit sehr langer Zeit ein Kernanliegen der politischen Arbeit von Claudia Roth, betont der Sprecher und richtet außerdem aus, Roth hoffe sehr »und würde sich freuen, wenn sie Philomena Franz bei einer der kommenden wichtigen Gedenkveranstaltungen auch persönlich treffen könnte.« Als Beispiel nennt er den »Festakt zu 10 Jahren Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma im Oktober in Berlin«.
Für die dann 100 Jahre alte Philomena Franz, eine der letzten Zeitzeuginnen des Landes, wäre eine Reise nach Berlin womöglich doch zu weit. Buth sagt: »Philomena Franz spiegelt uns, Deutschland und die Gegenwart«, es gelte sie jetzt zu ehren.