Ausstellung "Die gezeichnete Stadt" Die Narben von Berlin

Übermalte Mauer-Fotos, Sexshop-Fassaden in Buntstift und Freigeister in Pastell: "Der gezeichnete Blick" erweitert die Berliner Stadtgeschichte um Menschenbilder.

Die Geschichte einer Stadt wird lebendig, wenn man die Gedanken und Gefühle der Menschen kennt, die in ihr lebten - und eine Möglichkeit, dies nachzuempfinden, bietet die Kunst. Etwa jene von Gertrude Sandmann, einer Malerin, die fast ihr ganzes Leben in Berlin lebte.

Geboren im Jahr 1893, war sie der Geschichte ihrer Heimatstadt aufs Härteste ausgesetzt: Weil sie eine Frau war, durfte sie zunächst nicht an der Akademie der Künste studieren (was sie später nachholte). Weil sie Jüdin und lesbisch war, bekam sie von den Nationalsozialisten Berufsverbot, wurde verfolgt, tauchte unter.  

Nach dem Krieg schloss sich Sandmann der autonomen Frauenbewegung an und gründete die Gruppe L 74 für ältere lesbische Frauen. So kämpferisch das klingen mag, ihre Pastellzeichnungen blieben weich: Sandmann malte noch mit knapp 80 Jahren stolze und elegante Diven aus der West-Berliner Subkultur. Sie sind sanft und schön, doch in den Porträts wirken auch die Enttäuschung und Erschöpfung ihres Berliner Lebens.  

Sandmanns Frauenbilder sind nun Teil einer Ausstellung, die der Berliner Stadtgeschichte einen sehr persönlichen Anstrich gibt. "Gezeichnete Stadt" in der Berlinischen Galerie  zeigt in knapp 200 Werken den Blick der Kunstwelt auf die Metropole seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Vom Schutthaufen zum Rotlichtglitzer

Einen "Schutthaufen bei Potsdam" nannte Bertolt Brecht damals Berlin, und eben diesen zeigen auch die düsteren Trümmerbilder von Werner Heldt. Existenzielle Probleme der Nachkriegszeit werden hier greifbar, überall war Trauer und Verlust, es fehlte an allem. Auch eine Tür hat Heldt bemalt, denn für seine Kunst gab es kaum Materialien.

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So sehen Berliner Künstler ihre Stadt

Seitdem hat sich das Gesicht Berlins immer wieder verformt. Die Phase des Sonderstatus, die Teilung der Stadt, die sich verändernde Topografie, die Diktatur, die Jahre des Eingemauertseins, die historische Neuaufwertung: Wie fühlten sich die Künstler darin, wie sahen sie ihre Umgebung? Was machte die Architektur mit ihnen, was die sich verändernde Straßenführung?

In den Bildern kommt auch Frust zutage: Satireblätter von Gerd Wessel etwa lassen tief blicken, was DDR-Architektur für die Bewohner bedeutete: Wohnkomplexe sind nur mit Leitern zu erklimmen, Plattenbauten klaustrophobisch überfüllt. Den spanischen Künstler Antonio Saura lud das Kunstamt Wedding 1985 ein, sich mit der Mauer zu befassen – er übermalte daraufhin aggressiv die Fotografien der Landesbildstelle Berlin vom Todesstreifen. Auch verstörende Science-Fiction-Architekturlandschaften sind dabei, wie Berlin in ferner Zukunft hoffentlich nicht aussehen wird.

Beiläufige Straßenzenen gehören zum Bild Berlins, einige Zeichnungen sind vermeintlich zufällige Blicke, andere sind jahrelang verfolgte Projekte zum Hermannplatz oder historisch aufgeladene Motive, die an die NS-Vergangenheit erinnern. Der israelisch-dänische Künstler Tal R hielt Fassaden von Sex-Etablissements in lustig-ungelenken Buntstiftzeichnungen fest, die dem Versprechen eines erotischen Abenteuers auf seltsame Weise widersprechen. Aus den Achtzigerjahren stammen die anekdotenreichen Großstadtszenen von Egmont Schaefer: Ironisch lässt er Prenzlauer-Berg-Personal flanieren und verweilen, Passanten geben sich locker oder hochmütig.

Sowieso wird das muntere Großstadtpersonal zur besonders sehenswerten Abteilung von "Gezeichneten Stadt": Hier blicken posierende Diven und die Künstler-Bohème von der Wand, Großstadt-Kinder auf dem Gehweg und jugendliche Gestalten in Verweigerungshaltung.

Auch Gertrude Sandmanns "Mira" hängt dort, ein attraktiver blondierter Wuschelkopf im Jahr 1972 mit Sonnenbrille und roten Lippen, doch ihre Haltung verrät selbstbewusste Ablehnung, vielleicht Verachtung. Künstler*innen und ihr Berlin, ihr Lebensraum: Es ist eine Binnensicht auf urbane Vielfalt, die ihre historischen Narben verarztet.

Ausstellung: "Die gezeichnete Stadt. Arbeiten auf Papier 1945 bis heute", Berlinische Galerie , bis 4. Januar 2021

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