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KUNST / MASCHINEN Bälle für Rotozaza

aus DER SPIEGEL 52/1968

»Die Kunst«, plakatierten Berliner Dadaisten schon 1920, »ist tot. Es lebe die neue Maschinenkunst Tatlins.«

Das war zu früh gejubelt -- die Ablösung fand noch nicht statt. Maschinenkunst, wie sie der Sowjetrusse Wladimir Tatlin, Erfinder eines mit Muskelkraft betriebenen Flugapparats, konzipierte, hat erst seit den fünfziger Jahren ein größeres Terrain gewonnen.

Nun aber rotieren, klingeln, blinken technische Atelier-Produkte in allen wichtigen Avantgarde-Ausstellungen, und selbst durch elektronisch gesteuerte Effekte verblüffen sie neuerdings ihr Publikum. Denn mit der Maschinen-Technik ist auch die Kunst »am Ende des mechanischen Zeitalters« angekommen.

Diese Einsicht veranschaulicht der Museumschef Karl Pontus Hultén aus Stockholm jetzt gleichzeitig in zwei New Yorker Ausstellungen: Während er im Museum of Modern Art ältere Künstler-Reaktionen auf die Technik als Rückschau darbietet, sind im Brooklyn Museum »Noch mehr Neuheiten« installiert.

Die 137 Novitäten sind Beiträge zu einem Wettbewerb, der von der Gesellschaft »Experimente in Kunst und Technik« (EAT) ausgeschrieben worden war. Die Organisation, 1966 vom Pop-Vater Robert Rauschenberg mit dem Physiker Billy Klüver gegründet, versprach 3000 Dollar für das beste Werk, das nur durch Künstler und Ingenieur gemeinsam zu realisieren sei.

Den Lohn kassierten jetzt der Franzose Jean Dupuy und sein amerikanischer Techniker-Partner Ralph Martel für ihre Konstruktion »Herz schlägt Staub": einen Glaskubus, in dem eine Gummimembran entsprechend dem vom Tonband abgespielten Pochen eines menschlichen Herzens vibriert und dadurch roten Staub rhythmisch in einen Lichtkegel wirbelt. Betrachter können mittels Stethoskop auch ihren eigenen Herzschlag auf die Membran übertragen.

Andere Bewerber schickten beispielsweise zitternde Stahlstangen, die unter Lichtstößen eine Art Bauchtanz zeigen, sowie eine Plexiglas-Kugel (Titel: »Spielzeugtier"), die sich mittels akustischer und optischer Signale durch das Museum scheuchen läßt, wobei sie Knurr- und Wispertöne ausstößt -- komplizierte Trick-Objekte, wie Techniker-Phantasten sie seit Jahrhunderten vergebens zu realisieren suchten.

Den Werdegang der Künstler-Utopien verfolgt Hulténs Retrospektiv-Schau, in der auch wirkliche Maschinen wie ein Bugatti-Auto zu sehen sind, weit zurück: bis zu Zeichnungen, in denen schon Leonardo da Vinci simple Fluggeräte skizziert hatte. Die frühen Projekte, Tatlins Vogel-Imitation ähnlich, wurden jetzt in New York verwirklicht.

Gleichfalls zur Ausstellung nachgebaut wurde ein Tatlin-Werk: das -- zerstörte -- Modell, das der Künstler 1920 für ein »Monument der Dritten Internationale« hergestellt hatte. Die Ausführung des 400 Meter hoben Metallturms, in dem zylinderförmige Räume rotieren sollten, ging freilich über die Kraft des jungen Sowjet-Rußland.

Neben und nach Tatlin erprobten auch Dada- und Bauhaus-Leute (vornehmlich Marcel Duchamp und László Moholy-Nagy) Apparate mit Kunst-Charakter, und der Mobile-Erfinder Alexander Calder führte die Entwicklung fort. Den meisten Künstlern aber war die Maschine höchstens ein symbolkräftiges Bildmotiv -- so dem Franzosen Francis Picabia, der Lokomotiven-Teile als »Braut« und »Mädchen ohne Mutter« porträtierte.

Reale, wenngleich zweckfrei funktionierende Maschinen erbaut seit etwa zwei Jahrzehnten der Schweizer Jean Tinguely; er wurde damit zum Anführer der nun erst weit verbreiteten »Kinetik« (Bewegungsplastik). In New York zeigt er jetzt unter anderem ein parodistisches Gebilde ("Rotozaza"), das der Kritikerin Grace Glueck wie eine »Kreuzung zwischen Dreschmaschine und Dinosaurier« erschien: ein Gerät, das mit Gummibällen gefüttert wird und dann auch Gummibälle ausstößt.

Rotozaze ist, wie fast alle Tinguely-Produkte, von alter, mechanischer Art. Die neuen, zur EAT-Konkurrenz eingereichten Konstruktionen sind technisch ungleich raffinierter.

Sie sind auch anfälliger. Schon nach drei Wochen Laufzeit war die Ausstellung im Brooklyn Museum von eifrigen Benutzern etwa zur Hälfte ruiniert. Das aber, sagt EAT-Gründer Klüver, hat auch sein Gutes.

Klüver. »So merken die Künstler jedenfalls, daß ihre Sachen stabiler werden müssen.«

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