BRECHT Ball im Parterre
Die Premiere hatte ein Jahr Verspätung: Bertolt Brechts und Kurt Weills Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«, die vergangenen Sonntag an der Hamburger Staatsoper zum erstenmal gespielt wurde, sollte eigentlich bereits im September vorigen Jahres in Szene gehen.
Drei Wochen hatte damals der Regisseur Hans Schweikart im Opernhaus an der Dammtorstraße geprobt, dann durchkreuzte Ulbrichts Mauerbau am 13. August den Aufführungsplan.
Wie schon einmal, nach dem 17. Juni 1953, und zum zweiten Mal 1956 nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands, so setzte auch nach dem 13. August 1961 eine Anzahl westdeutscher Bühnen - pressiert von Kommunalpolitikern, Abonnentenprotesten und Zeitungskommentaren ("Bild": »Mit jeder Brecht-Premiere geht ein wenig von der inneren Abwehrbereitschaft zum Teufel"), aber auch aus freien Stücken - Brecht-Inszenierungen vom Spielplan ab. Brecht-Enthaltung übten außer der Hamburgischen Staatsoper beispielsweise Theater in Westberlin, Kassel, Bielefeld und Tübingen.
Nicht alle Theater motivierten ihre Entscheidung in der Brecht-Frage so verständig wie die Hamburger Oper: Die Intendanz erklärte, da gegenwärtig eine Bereitschaft zur sachlichen Diskussion des Werkes beim Publikum nicht vorauszusetzen sei, werde »Mahagonny« vorerst nicht aufgeführt.
Staatsopernchef Rolf Liebermann: »Wenn im ersten Stock jemand stirbt, gebe ich im Parterre keinen Ball!«
Andere Bühnen wollten nicht nur absehbar befristete Pietät üben, sondern, wie etwa das Wiener Volkstheater, den Brecht-Boykott bis zur Lösung der Berlin-Krise einhalten. Andererseits erklärte der von jeher auf Brecht eingeschworene Frankfurter Intendant Buckwitz, er werde seine geplante »Galilei« -Premiere erst dann absetzen, wenn »von Ost auf West geschossen wird«. Auch Ulms Prinzipai Hübner (jetzt Intendant in Bremen) beharrte trotz öffentlicher Proteste und anonymer Anfeindung - dabei sogar eine Attentatsdrohung - auf seiner Premiere von Brechts Schauspiel »Der Prozeß der Jeanne d'Arc zu Rouen 1431« (SPIEGEL 38/1961).
Viele Theaterleiter in der Bundesrepublik, berichtete die »Frankfurter Allgemeine«, scheuten jedoch eine Stellungnahme: »(Sie) hoffen, daß zu dem Zeitpunkt ihrer Brecht-Planung die politische Situation wieder entspannt sei ... Ja, ein Vertreter des Deutschen Bühnenvereins fragte in einer dunklen Stunde sogar beim gesamtdeutschen Ministerium (das das Ansinnen zurückwies) nach einer Empfehlung, wie man sich denn verhalten solle.«
Schon Anfang 1962 begann die dritte bundesdeutsche Anti-Brecht-Welle zu verebben: Das NDR-Fernsehen strahlte
die im Oktober 1961 ebenfalls aufgeschobene »Galilei«-Inszenierung des Hamburger Fernsehspielchefs und Brecht-Schülers Egon Monk aus, und der Lübecker Senat zog sein Verbot der Brecht-Aufführung »Mit Pauken und Trompeten« zurück. Im März spielte Bielefeld nun doch »Der gute Mensch von Sezuan«, und der Oberbürgermeister von Baden-Baden gab seinen Widerstand gegen eine Aufführung der »Mutter Courage« auf.
Die am vergangenen Sonntag nachgeholte Hamburger »Mahagonny« -Aufführung markierte nun das Ende des dritten Brecht-Boykotts in der Bundesrepublik. Das musikalisch und szenisch aggressive Singspiel, dessen Leipziger Uraufführung 1930 Skandal machte (SPIEGEL 39/1959), wurde diesmal von Egon Monk inszeniert. Die Dekorationen hatte Brecht-Freund und - Mitarbeiter Caspar Neher, der vor knapp drei Monaten verstarb, schon im vorigen Jahr verfertigt; sie sind Nehers Dekorationen für die Berliner »Mahagonny« -Aufführung von 1931 nachgestaltet.
Nach der Hamburger Aufführung wird die bisher selten gespielte Oper demnächst auch einem größeren Publikum dargeboten: Monks »Mahagonny« -Inszenierung wurde vom NDR-Fernsehen aufgezeichnet und wird möglicherweise noch in diesem Jahr auf deutschen Bildschirmen zu sehen sein. Überdies wird die Brecht-Weill-Oper Anfang Oktober in dem vom NDR und vom Sender Freies Berlin neu gegründeten »Dritten (Hörfunk-)Programm« (Chefs: Ernst Schnabel und Rolf Liebermann) übertragen.
Funk, Fernsehen und die westdeutschen Bühnen stehen dem Werk Bertolt Brechts wieder offen - mit Ausnahme der Städtischen Bühnen Köln, deren derzeitiger Chef Oscar Fritz Schuh, ab 1963 Gründgens-Nachfolger in Hamburg, grundsätzlich und schon immer Brecht nicht spielen will, solange er ein Politikum ist.
Totale Brecht-Abstinenz üben außerdem weiterhin die Theater in Wien und Westberlin. Schiller-Theater-Intendant Boleslaw Barlog, der nach dem 13. August 1961 eine geplante »Puntila« -Aufführung absetzte, bedauert, seinem Publikum heute weniger denn je Brecht vorspielen zu können: »So wenige Kilometer von der Mauer geht das einfach nicht.«
In der Bundesrepublik hingegen ist Brecht nicht nur wieder spielbar, das Brecht-Repertoire wird in der neuen Saison hier sogar noch erweitert:
- Bremen bringt eine Wiederaufführung des seit 1926 nicht mehr gespielten Einakters »Die Kleinbürgerhochzeit«;
- Hannover bietet die deutsche Erstaufführung des bisher nur in Dänemark und in Dänisch (1936) aufgeführten Stückes »Die Rundköpfe und die Spitzköpfe« (Untertitel: »Ein Greuelmärchen");
- Frankfurt präsentiert - am Samstag dieser Woche - die Uraufführung von Brechts Shakespeare-Bearbeitung »Coriolan«.
»Wegen weiterer Stücke aus dem Nachlaß«, gibt obendrein Brechts westdeutscher Verleger bekannt, »steht der Suhrkamp Verlag in ständiger Verbindung mit den Erben Brechts und dem (Ostberliner) Bertolt-Brecht-Archiv.«
Homburger Brecht-Premiere »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny": Ende des dritten Boykotts