Ballett: Baryschnikow auf dem Thron
Die New Yorker nennen ihn zärtlich beim Vornamen, und sie erstarren betrübt, wenn ihnen der Aushang im Fenster einer Theateragentur mitteilt, daß »Mischas Vorstellung ausverkauft« sei.
Von der gefürchteten New Yorker Kritik sammelt er bloß Superlative ein. Clive Barnes, dem obersten Richter der »New York Times« in Sachen Ballett, »stockte der Atem« angesichts der Figuren des Tänzers, die ihm ebenso »unmöglich wie perfekt« erschienen, und er lobte ihn als »den besten Stilisten, den das sowjetische Ballett je hervorgebracht hat«.
Die ekstatische Verehrung des vor einem Jahr aus der Sowjet-Union geflüchteten Solotänzers Michail Nikolajewitsch Baryschnikow, 27, dem »Time« und »Newsweek« jüngst in derselben Woche Titelgeschichten widmeten, hat in der amerikanischen Theatergeschichte kaum ein Vorbild, und es gibt unter Kennern Stimmen, die sie für übertrieben halten.
Die Erhebung eines einzelnen zum Superstar widerspricht sogar im Grunde der amerikanischen Ballett-Tradition. In George Balanchines New York City Ballet könnten sich alle Solotänzer auf einmal den Fuß verknacksen und würden doch immer gleichwertig aus dem Corps de ballet ersetzt werden können. Das moderne amerikanische Ballett ist in seiner Struktur sowieso eher kollektiv als auf die überragenden Figuren einzelner Virtuosen angelegt.
Baryschnikow jedoch sprang auf die amerikanische Szene zu einer Zeit, in der Ballett in den USA eine bisher undenkbare Konjunktur erlebt. Studenten drängeln sich nicht mehr so sehr in Footballspiele oder Rock-Konzerte als in Ballettaufführungen. Auf eine Million wurde 1965 das Publikum für die Spitzentänzer geschätzt, rund elf Millionen sollen es 1974 gewesen sein -- ein Umstand, der damit zusammenhängen mag, daß die Amerikaner nach der tumultuösen Epoche, die sie hinter sich haben, Linderung suchen bei der Eleganz des Balletts.
Am glorreichsten entfaltet sich die amerikanische Ballett-Renaissance in New York. George Balanchines New York City Ballet, das American Ballet Theater, das City Center Joffrey Ballet, Alvin Aileys Truppe oder das Dance Theater of Harlem zählen zu den besten Ensembles der Welt. Mit 16 Weltpremieren wird das New Yorker Publikum zum Ende der Saison verwöhnt, Gala-Abende bei Martha Graham, dem New York City Ballet und im Sommer beim American Ballet Theater dürften zu Ereignissen vom Rang der Hollywood-Premieren in den dreißiger Jahren werden, nur feiner.
Für solch glanzvollen Schauplatz wurde ein blondschopfiger Märchenprinz vom Typ des Michail Baryschnikow geradezu gebraucht. Ein Superstar war fällig, zumal der Stern des 1961 geflüchteten, inzwischen 37jährigen Rudolf Nurejew ganz sacht zu verblassen beginnt. Baryschnikow füllte den leeren Thronsessel, den ein erwartungsvolles Publikum bereitgestellt hatte, und er füllt ihn exquisit.
Er hat erst mit zwölf Jahren angefangen zu tanzen, daheim in Riga beim Choreographischen Institut. Als Sechzehnjähriger, als Mitglied einer Jugendtanzgruppe und zu Besuch beim Kirow-Ballett in Leningrad, baute er sich vor dem legendären Ballettmeister Alexander Iwanowitsch Puschkin auf, der Nurejew und Walerij Panow ausgebildet hatte, und bat ihn, sein Schiller werden zu dürfen. Puschkin befühlte seine Muskeln und ließ den Jungen dann »wie ein Zicklein« über Tische und Bänke hüpfen -- zum Wohlgefallen des Meisters.
Drei Jahre studierte er unter Puschkin, den er noch heute, fünf Jahre nach dessen Tod, wie einen Heiligen verehrt: »Er war wie jemand, der aus einer Ikone ins wirkliche Leben getreten ist.«
Ohne sich erst im Corps de ballet hochdienen zu müssen, sammelte Baryschnikow bald als Solist Goldmedaillen ein, 1966 in Warna und 1969 in Moskau; russische Teenager fingen an, ihn mit Blumen zu bewerfen. Als jüngster Tänzer, der jemals »Verdienter Künstler der Sowjet-Union« wurde, durfte er das privilegierte Leben eines vom Staat verhätschelten Wunderkindes führen, mit großer Privatwohnung und Dienstmädchen. Auch im Westen galt er bald als »phänomenaler Techniker von bisher unbekanntem Kaliber« ("Dance Magazine").
Mit seiner Neigung zu westlich-modischer Kleidung (und zu westlichen Mädchen) fiel er sowjetischen Kulturfunktionären nach 1970 unangenehm auf. Bei Reisen ins westliche Ausland wurde er immer schärfer bewacht. Zu viele Kronjuwelen hatte gerade das Kirow-Ballett schon an den Westen verloren -- seit Nurejew in den letzten Jahren etwa die Ballerina Natalja Makarowa, den Tänzer Walerij Panow und dessen Frau Galina.
Er wäre geblieben, betont Baryschnikow, der vergangenen Juni in Toronto eine Zuschauerkette durchbrach und in einem wartenden Auto davonpreschte, »wenn das Kirow-Ballett mir nur erlaubt hätte, mit anderen Ensembles im Westen aufzutreten; wenn sie nur mal ausländische Choreographen gebeten hätten, zeitgemäße Werke für uns zu entwickeln«.
Mit neuen choreographischen Ideen hat er sich freilich seither noch kaum auseinandergesetzt. Was er als Tänzer und Choreograph wirklich kann, meint die führende US-Ballettkritikerin Olga Maynard, werde man »erst noch sehen -- zum Beispiel, wenn er nächstes Jahr im American Ballet Theater den Don Quichotte tanzt«,
Um sich nicht »wie ein Zirkuspferd« (Olga Maynard) auf der Reise von Engagement zu Engagement zu verschleißen, verband sich Baryschnikow mit dem American Ballet Theater und mit dem kanadischen National Ballet. Auch eine ständige Partnerin, für die Bühne jedenfalls, hat er gefunden: Gelsey Kirkland, 22, wechselte ihm zuliebe aus George Balanchines New York City Ballet zum ABT.
Derart gesichert, kann er nun zu seinen berühmten Sprüngen abheben, in denen er, so »Newsweek«, »die kompliziertesten Figuren in sofortigen und vollkommenen Stillstand verwandelt« und, laut »Washington Post«, »auf der Luft zu sitzen scheint«.