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Artikel 67 / 83

KUNST Barbarische Strähne

Eine große Picasso-Ausstellung war noch fällig: die seiner Skulpturen. Von Freitag an wird sie in Berlin gezeigt. _(für Werke Picassos: SPADEM/Bild-Kunst ) _(1983. ) *
aus DER SPIEGEL 40/1983

Die Bilder mochten in die Welt hinausgehen, aber seine Skulpturen hielt Pablo Picasso um sich versammelt wie eine leibhaftige große Sippe. Trotzdem erschienen sie ihm am Ende eigentümlich fremd. »Es ist«, so entfuhr es dem Neunzigjährigen, dem ein Katalog seiner plastischen Werke vorgelegt wurde, »als entdeckte man eine unbekannte Zivilisation.« Solche Archäologie bleibt auch eine Aufgabe für die Nachwelt. Bei weitem nicht in gleichem Grade wie der längst als Jahrhundertfigur approbierte Maler Picasso ist der Bildhauer im öffentlichen Bewußtsein präsent. Sogar für Experten gibt es ständig neue Facetten, Chronologien und Zusammenhänge seines (Euvres zu entdecken, ja dessen schierer Umfang schwillt in ihren Listen noch an.

Jenes 1971 erschienene Verzeichnis, in dem der alte Künstler gleichsam eine ferne Welt gespiegelt fand, hatte 664 Skulpturen aufgezählt. Jetzt legt der Autor, Werner Spies, eine Neubearbeitung vor, die - außer vielen jüngeren Einsichten - noch einmal weit über 100 Bildwerke

zusätzlich, überwiegend Varianten schon verbuchter Stücke, publik macht.

Das Buch, für sich schon gewichtig genug, dient zugleich als Katalog einer von Spies organisierten Ausstellung, die sich risikolos vorweg zu den großen internationalen Kunstereignissen des Jahres zählen läßt. Es ist, nach der New Yorker Über-Schau 1980, »die erregende Picasso-Ausstellung, die man noch machen konnte« (Spies): erste umfassende Spezialdarbietung der Plastiken. Vom Freitag dieser Woche an ist sie in der Berliner Nationalgalerie zu sehen. _(Bis 27. November. Ab 11. Dezember in der ) _(Kunsthalle Düsseldorf. Katalog-Buch im ) _(Verlag Gerd Hatje, Stuttgart; 424 ) _(Seiten; 40 (im Buchhandel 58) Mark. )

Dergleichen wäre zu Lebzeiten des Künstlers kaum möglich gewesen, weil der, ganz anders als Zunftkollegen, Bronzegüsse meist in einem einzigen Exemplar anfertigen ließ, Modell und Guß beide selbst behielt und nur 1966, zu seinem 85. Geburtstag, größere Bestände auslieh. Künftig wird ein Hauptanteil dieses Erbes in dem seit Jahren vorbereiteten Pariser Picasso-Museum unabkömmlich sein, dem aber doch auch wieder entscheidende Stücke fehlen. Die befinden sich in geringerer Zahl in anderen großen Museen als bei Picasso-Hinterbliebenen.

Auf seine Autorität als Spezialist gestützt, hat Spies das Bravourstück fertiggebracht, nicht nur 45 Werke eigener Wahl aus dem Musee Picasso zu bekommen, sondern auch die Witwe, die drei Kinder und zwei Enkel Picassos sämtlich zu Leihgaben für ein und dieselbe Ausstellung zu überreden. Zum stolzen Rest gehört etwa eine aus Brettern, Latten und Klötzen zusammengezimmerte Monumentalgruppe von »Badenden« (1956). Vor zwei Jahren war sie für eine umraunte Millionensumme aus dem Besitz der Picasso-Enkelin Marina an die Staatsgalerie Stuttgart gegangen, wartet aber noch auf ihren öffentlichen Auftritt dort, bis (im März 1984) ein Erweiterungsbau des Museums fertig ist.

Spies konnte sogar Leihgaben verschmähen. Die 199 nun in Berlin gezeigten Plastiken sind eine Idealauswahl mit minimalen Lücken. Von sechs bronzenen »Absinthglas«-Exemplaren (1914) mit jeweils unterschiedlicher Bemalung und realem Löffel fehlt beispielsweise nur eines, dessen Besitzer nicht zu ermitteln war.

Die Augen-Erfahrung, die auf den Besucher wartet, ist unvergeßlich. Schon letzte Woche, beim Gang durch die noch werkstatthaft-unfertige Ausstellung ließ sich ganz einfach sehen, was man freilich wissen konnte: daß Picasso auch als Bildhauer höchsten Ranges ist, in seiner Zeit wohl ohne ernste Konkurrenz. Er setzt vernichtende Maßstäbe.

Schlagend zeigt sich das im Vergleich mit einer anderen Berliner Skulpturenausstellung, die noch bis 23. Oktober in der Akademie der Künste gezeigt wird und die dem Spanier Julio Gonzalez gilt. Der war um 1930 Picasso mit Schmieden und Schweißen zur Hand gegangen und hatte dabei entscheidende Anregungen bezogen, ein nobler Künstler mit Formphantasie und Materialgefühl.

Nur verblassen seine Eisengebilde fast zum gefälligen Nippes, wenn man eine Picasso-Plastik der betreffenden Periode ansieht. Die »Frau im Garten« (1929), eine Gestänge-Konstruktion mit Blattmotiven und jener Andeutung einer fliegenden Haarsträhne, die dann ein Gonzalez-Markenzeichen wurde, trägt deutlich verspielte Züge (Picasso: »Als wir das machten, brüllten wir vor Lachen"). Aber sie ist eben auch ein wild bewegtes, expressives Werk, von geradezu barbarischer Energie.

Mit abstrakten Elementen jonglierend, hat Picasso doch immer die Natur im Auge behalten. Auf konsequenter Suche nach der »reinen Form«, so erklärte er, lande man zwangsläufig beim schlichten Ei. Aber die Kunst müsse »beizeiten haltmachen« können. In diesen selbstgezogenen Grenzen entwickelte er eine unerhörte plastische Vielfalt. Ohne nennenswerten Einfluß von Zeitgenossen, dafür oft mit Blick auf die Bildwerke ferner Zeitalter und Regionen, konnte er abseits jeder Nachempfindung erschreckende Idole modellieren oder auch montieren.

Die stampfende Bewegung, die eine »Badende« von 1931, ein Ausbund an Weiblichkeit mit gewaltigen Schenkeln und Stummelärmchen, anschaulich macht, ist beispiellos. Hier wie in den überlebensgroßen Frauenbüsten derselben Zeit, majestätischen Götzenbildern, geben die konvexen Massen einen Inbegriff von Plastik.

Aber ein paar Jahre zuvor hatte Picasso auch schon die entgegengesetzte Möglichkeit erprobt: die einer »Statue aus Nichts, aus Leere«. Spies erfuhr noch vom Künstler selbst, daß der sich nachträglich durch Guillaume Apollinaires Schlüsselerzählung »Le poete assassine« herausgefordert gefühlt hatte. Zehn Jahre nach dem Tod des Autors 1918 wurde ein Denkmal für Apollinaire geplant, aber seinem Ebenbild im Buch hatte er durch den Künstler Oiseau du Benin alias Picasso schon eins setzen, nein graben lassen - als Hohlform in der Erde.

Nicht wörtlich so, wohl aber mit luftigen »Raumzeichnungen« hat Picasso die Idee hartnäckig umspielt. Drei dieser Drahtgerüste, die Gonzalez bauen half, die aber als Apollinaire-Denkmal keine _(Ausstellungsmacher Spies mit dem ) _(Künstlersohn Claude Picasso (r.) vor ) _("Frau im Garten«. )

Gnade fanden, werden nun in Berlin gezeigt. Die Fülle der Formexperimente indes, die dahin führten, erschließt sich nur aus Picassos Notizblöcken, die, nicht ausgestellt, nur im Katalog herangezogen werden.

Überhaupt wartet Spies da mit viel unbekanntem Material auf. Er kann zum erstenmal eine afrikanische Maske im Photo abbilden, die Picasso schon vor 1917 besaß. Nicht, daß der Künstler so etwas in Malerei oder Plastik nachgeahmt hätte. Aber die Doppeldeutigkeit positiver und negativer Formen (die Augenhöhlen als vorspringende Röhren markiert) findet sich bei seinen kubistischen Gitarren-Konstruktionen wieder.

Ein weiterer aufschlußreicher Fund: von Picasso manipulierte Abzüge eines Atelier-Photos von 1913. Das Original zeigt eine Wand mit der Zeichnung eines Gitarrespielers, der aber ein reales Instrument hält, davor einen ebenso wirklichen Tisch mit Zeitung, Flasche, Tasse und Pfeife. Picasso nun hat die Darstellung mit geometrischen Scherenschnitten so abgedeckt, daß alles Plastische wie in die Fläche zurückgebügelt wird.

Die da erforschte Wechselwirkung von Malerei und Skulptur war in Picassos Werk lange fruchtbar. Sie löste sich auf, als der Bildhauer, etwa von 1930 an, Fundstücke als Werkteile einsetzte - nicht in ihrer ursprünglichen Bedeutung, sondern in einer jeweils neuen, die er in sie hineinsah. Aus zwei Spielzeugautos konnte der Schädel eines Pavians werden (1951), aus nichts als Fahrradsattel und Fahrradlenker ein Stierkopf (1942). Picasso war damit noch nicht zufrieden: »Man müßte nur ein Holzscheit nehmen können, so daß es schon ein Vogel wäre.«

Die Berliner Retrospektive stellt Picassos Plastiken in einer überwältigenden Passage - von den frühesten Bronzen bis zu witzig gefalteten Blech-Schnitten der späten Zeit - zusammen. Aber sie legt, wenn es so kommt, auch einmal die Teile auseinander.

Eine »Frau mit dem Schlüssel« (1954), auch »Bordellmutter« genannt, steht als intakte, wenn auch unverkennbar zusammengesetzte Figur aufrecht in Bronze da. Sie ist nicht einmal, wie man denken sollte, aus einem Guß, sondern erst aus den Gußteilen montiert.

Ihr Modell fand sich in rohen Einzelstücken in Picassos Nachlaß an und ist jetzt von Tochter Paloma nach Berlin ausgeliehen worden: ein Ziegelstein, ein paar unansehnliche Metallstücke. Nur der Schlüssel war auch schon vor Picasso ein Schlüssel.

Bis 27. November. Ab 11. Dezember in der Kunsthalle Düsseldorf.Katalog-Buch im Verlag Gerd Hatje, Stuttgart; 424 Seiten; 40 (imBuchhandel 58) Mark.Ausstellungsmacher Spies mit dem Künstlersohn Claude Picasso (r.)vor »Frau im Garten«.

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