Bayreuth, Wagner und ein Ende?
Zu Wagner fällt einem Neues kaum ein. Der Streit um ihn dauert nun schon hundert Jahre, die Argumente wurden ausgetauscht bis zum Überdruß, sie sind seit Nietzsche und Shaw keineswegs besser geworden. Soviel scheint richtig: Wagner ist immer noch der umstrittenste und »interessanteste« Künstler der Nation. Die einen vergöttern ihn, die anderen fühlen sich bei ihm unbehaglich. Und selbst die, die sein Werk nicht kennen (das sind die meisten), haben ihr Vorurteil über ihn. Es setzt sich zusammen aus bösen Gerüchten über Antisemitismus, Germanenkult und musikalische Kraftprotzerei.
Gern möchte man Wagner davor in Schutz nehmen. Aber wer könnte bestreiten, daß in diesem Vorurteil, in dieser Idiosynkrasie gegenüber Wagner ein begründeter, ein wahrer Kern steckt. Das hängt freilich mehr mit seiner Wirkung als mit seinem Werk zusammen, obwohl sich beides, gerade bei ihm, nicht trennen läßt. Nirgendwo wird Wagners Wirkung so deutlich greifbar wie in Bayreuth, wo er auf dem Grünen Hügel das Festspielhaus baute. Aber gerade in diesem Festspielhaus, das nun hundert Jahre alt wird, verkörpert sich auch alles das, was eine unbeschwerte Liebe zu Wagner so aussichtslos macht.
Denn Bayreuth war ja niemals in seiner Geschichte irgendein Theater, ein x-beliebiger großbürgerlicher Kulturtempel. Bayreuth führt uns mitten hinein in unsere politische Geschichte. Es war für viele Jahrzehnte ein Zentrum nationaler Selbstbeglückung, eine Brutstätte imperialer deutscher Träume. Es hat den reaktionären Kräften in Deutschland für ihr weithistorisches Spiel mit dem Feuer die kulturelle Legitimation geliefert. Wenn es nun hundert Jahre alt wird, dann ist das, wie es scheint, kein Grund zum Feiern.
Doch man stelle sich vor, Bayreuth läge nicht in Oberfranken, sondern hundert Kilometer nördlich in Thüringen. Gäbe es dann etwa keine Festspiele? Es gäbe sie gewiß und eine stolze Säkularfeier dazu. Warum nicht auch im wirklichen, fränkischen Bayreuth? Schließlich hat sich seit dem letzten Krieg einiges dort geändert. Es gibt keine völkischen Aufmärsche mehr und keine nationalen Demonstrationen. Wieland, der Enkel, hat das neue Bayreuth gründlich entrümpelt. Wolfgang Wagner, der heute die Festspiele leitet, ist sicher unverdächtig, mit dem alten Bayreuth zu sympathisieren. Die Veteranen sind nahezu ausgestorben, stören immer weniger den freundlichen Gesamteindruck. Warum also die Schatten der Vergangenheit beschwören?
Die Frage ist rein hypothetischer Natur. Die Festgemeinde, die sich im Juli einfinden wird, wird ohnehin wenig Sinn haben für moralische Trauerarbeit und historische Gewissenserforschung. Und vermutlich auch nicht das offizielle Bayreuth, die örtlichen Politiker, die Festspielleitung. Die These sei gewagt, daß die Bayreuther »Entrümplung« bis heute unvollständig, d. h. vorwiegend auf die Festspielbühne und den Fundus beschränkt blieb, während die Archive noch sorgsam gehütet werden. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte steht noch aus. Wie kam es denn, daß der Meisterwille zum Führerprinzip denaturierte?
Der Meisterwille: da steht das Wort. Weiß man denn, was Wagner wollte? Er baute das Festspielhaus, um Musteraufführungen seiner Werke zu ermöglichen. Was er plante, war ein Gegenentwurf zu den Opernhäusern der Metropolen: ein Theater ohne Prunk und Zierat, ohne Logen und Ränge, mit polsterlosen Sitzen, aus dürftigstem Material. So entstand das Festspielhaus mit seiner asketischen Architektur und seiner unvergleichlichen Akustik.
Was Wagner darüber hinaus wollte, blieb Illusion. Er baute das Theater in Bayreuth, in der Provinz, um aus der verhaßten Gesellschaft seiner Zeit zu fliehen. Aber die Gesellschaft holte ihn auch in Bayreuth ein. Wenn er sich sein Publikum vorstellte, dachte er an »das Volk«, nicht an die Reichen und Besitzenden, die Gebildeten, die herrschende Klasse. Aber wer nach Bayreuth kam, mußte zahlen, nicht anders als in Berlin oder Paris. Das »Volk« aber, von dem Wagner geträumt hatte, war auch in Bayreuth nur als Akklamationschor vor den Toren zugelassen. »Volkstheater« gab es nur einmal in Bayreuths hundertjähriger Geschichte; als Soldaten, Invaliden und Arbeiter der Rüstungswirtschaft von Hitler zur »Götterdämmerung« geladen wurden. Hier konnten sie das große Schicksal erahnen, das in Stalingrad für sie inszeniert wurde.
Als das Festspielhaus stand, der
»Ring« uraufgeführt war, fühlte sich Wagner sterbenselend. Er hatte das Illusionäre seines Unternehmens erkannt. Doch nun war es zu spät. Das Produkt seines Willens hatte seine Einsicht überholt, es macht sich selbständig. Das war der Preis, den Wagner zahlen mußte für seine Entwicklung vom grollenden Verächter der Bourgeoisie zu ihrem beredtesten und subtilsten Apologeten, für seinen Weg vom anarchistischen Revolutionär zum pessimistischen Erlösungsphilosophen. Auf diesem Weg errang Wagner einen Sieg nach dem anderen. Aber im ganzen war es eine Niederlage.
Das Bayreuther Ereignis, Wagners Siegeszug und die Reichsgründung fallen in dasselbe Jahrzehnt. Keineswegs zufällig. Was sich hier vollzog, nannte Nietzsche schon nach der Schlacht von Sedan »die Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches«. Bayreuth ging dabei voran. Hier pflegte man ja schon. mit der Kunstreligion auf der einen Seite, dem maßlosen Weltbeglückungsanspruch auf der anderen, die neue Reichsideologie. Mühelos ließ sich Bayreuth in die wilhelminische Prunk- und Eisenfassade einmontieren, Wagners »Bombast« bezeugte die Überlegenheit der deutschen Kultur, seine Monumentalität entsprach dem Weltmachtstreben, seine weltanschauliche Totale wurde zum Nährboden schlimmer Theorien.
»Richard Wagner in Bayreuth« -- das war auch eine faszinierende Formel für die entfesselten Aporien der deutschen Provinz: Deutschtümelei und Kunstreligion, Stammtischmentalität und Schöngeistigkeit, Brutalität und Selbstmitleid. Wen kümmert es, ob die Formel stimmte? Auch die feineren Geister kamen bei Wagner auf ihre Kosten, sogar Nietzsche, der freilich diesen Wagner für ein »deutsches Mißverständnis« hielt.
Es gehört zu den schon oft widerlegten, aber zählebigen Legenden um Bayreuth, daß Hitler und der Nationalsozialismus dort erst nach 1933 Einzug gehalten hätten. Umgekehrt ist es richtig; Um seinen deutschen Siegeszug antreten zu können, mußte Hitler erst lange genug die schwüle Luft dieses chauvinistischen Treibhauses atmen; um »Mein Kampf« zu schreiben, mußte er sich erst den Geist der »Bayreuther Blätter« einverleibt haben. Die in diesem einflußreichen Organ der Bayreuther Ideologie schrieben, waren die Wolzogen, Chamberlain und ihre reaktionären Kumpane: alldeutsche Expansionisten, ansehe Rassefanatiker, antisemitische Hetzschreiber. Winifred Wagner legte schon 1923 ein öffentliches Bekenntnis zu Hitler ab. Von da an fehlten auf keinem Festspiel faschistische Kundgebungen. Es dauerte nicht mehr lange, bis Julius Streicher den Befehl zur Zerstörung der Nürnberger Synagoge mit den Wagner-Worten gab: »Fanget an!«
Die Frage läßt sich nicht länger zurückweisen, ob denn Wagner, der geniale Schöpfer von »Lohengrin« und »Tristan«, dieses Bayreuth und was daraus wurde, alles, was in und mit seinem Namen geschah, zu verantworten habe. Überspitzt formuliert: Führt ein Weg von der »Götterdämmerung« zu Hitler, vom »Parsifal« zu den Gaskammern von Auschwitz? Auf die klare Frage läßt sich keine ebenso klare Antwort geben. Wagners Wirkung läßt sich nicht säuberlich von seinem Werk, Bayreuth nicht von dem künstlerischen Erbe trennen, das dort verwaltet wird. Aber auch in den Musikdramen selber nistet das Fragwürdige neben dem Wunderbaren: da ist nicht dieses zeitgebunden und entbehrlich, jenes aber zeitlos und groß. Beides wächst aus einer Wurzel. Was über das Brüchige, Antinomische in Wagners Werk zu sagen ist, läßt sich bei Adorno, Bloch, Hans Mayer nachlesen, Wagner-Kritiker allesamt. Aber ihnen -- Marxisten, Linksintellektuellen, Fortschrittsleuten -ist es zu verdanken, wenn Wagner nach 1945 noch so etwas wie intellektuelle Reputation genoß.
Wagners Musik ist eine Musik ohne
Moralität, selbst da, wo sie Erlösung von der Triebnatur begehrt. Noch im herzschwellenden Brudereid von Gunther und Siegfried steckt etwas von der Blutmystik faschistischer Männerbünde, in Hagens Wachtgesang etwas von Wagners eigener Angst vor lauernder Weltverschwörung. Das antiwelsche Ressentiment steckt in den »Meistersingern«, das antislawische im »Lohengrin«, das antiintellektuelle in der Beckmesser-Gestalt. Für uns Heutige hat sich historische Erfahrung über die ursprünglichen Ausdruckscharaktere gelagert, ist untrennbar mit ihnen verwachsen. Darum kann es vorbehaltlose Rettungen Wagners, auch -- trotz Adorno und Bloch -- einen Wagner für die Linke nicht wirklich geben. Selbst in der kritischen Leidenschaft linker Interpreten spürt man eine Verfallenheit an die dunkel-chthonische Macht dieser Musik. Ihre emotionale Wucht erweist sich letztlich als den rational-analytischen Kräften, die auch in diesem Werk vorhanden sind, überlegen. Das bedeutet auch: Man kann Wagner möglicherweise freisprechen von der mörderischen Praxis eines Julius Streicher, aber das löst nicht die Frage, warum dieser Julius Streicher Wagners Musik vermutlich ebenso leidenschaftlich und tief liebte wie alle jene, die es heute noch in treuherziger Unschuld tun.
Nach 1945 wurde Bayreuth entnazifiziert. Die Generation der Enkel entmachtete die der Väter (und Mütter). Ihnen fiel nun die Aufgabe zu, die fragwürdig gewordene Konkursmasse zeitgemäß aufzubereiten und einer neuen Gesellschaft, die freilich so neu nicht war, erträglich zu machen. Vor allem Wieland Wagner ging daran, neue Aspekte des Gesamtkunstwerks zu entdecken. Zunächst ging das nicht ohne Widerstände ab. Die Ewig-Gestrigen, die Fanatiker der Werktreue traten auf den Plan und klagten, das neue Bayreuth sei in die Hände der Antiwagnerianer gefallen. In Wirklichkeit war die Irritation über Wieland Wagners Erneuerung weniger tief als das Geschrei darüber laut war: keine Reform wurde lebhafter bejubelt und bereitwilliger akzeptiert als die Neu-Bayreuther. Von heute aus erkennt man, daß es Wieland Wagner mehr um eine ästhetisch-psychologische als um eine politisch-historische Neudeutung ging, daß er den Zeitkern des Wagnerschen Werkes geflissentlich mied und ins Zeitlose des Mythos auswich. Damit kam er insgeheim den Bedürfnissen eines traditionell unpolitischen Publikums entgegen. Ohnehin unterschied sich dieses Publikum, vom deutschvölkischen Element abgesehen, nicht sehr vom alten; politische Prominenz, »Society« in fast allen ihren Spielarten, alt- und neureiche Wirtschaftswunderprofiteure, als Grundfarbe breite Bürgerlichkeit; daneben naive Opernfans, französische Enthusiasten, internationales Ästhetentum. Bayreuth stellte sich darauf ein. Als die Festspiele 1951 wieder eröffnet wurden, verbat man sich politische Debatten. Anschlag auf dem Grünen Hügel: »Hier gilt"s der Kunst!«
Freilich konnte die relativ schnelle Konsolidierung des neuen Bayreuth nichts daran ändern, daß die meisten westdeutschen Intellektuellen auf Distanz blieben. Sie gleichsam als kulturelles Bindemittel zu gewinnen, gelang den neuen Gralshütern nicht. Das mochte daran liegen, daß die erfolgreiche Verdrängung von Schuldgefühlen natürlich nicht ganz folgenlos blieb.
Sie reflektierten sich im kollektiven Unbewußten und im kulturellen Gesamtklima, daher rührte die große Fremdheit, das tiefverwurzelte Mißtrauen, jene eingangs erwähnte Idiosynkrasie gegenüber Wagner (und Bayreuth) im allgemeinen Bewußtsein. Es war ein kulturelles Trauma, in dem sich bewußte Negation und unbewußte Scheu vor dieser hocherotischen Emotionskunst fast irrational vermischten. Die Zeit nach 1945 war eine Zeit der Wagner-Ferne. Auch heute sind wir nicht in Wagner-Nähe. Soll man sagen: noch nicht?
In Bayreuth lebt immer noch, wie ein
dunkler Vogel, Winifred Wagner, die »Herrin« auf dem Grünen Hügel in Bayreuths einerseits größter, andererseits dunkelster Zeit. Sie ist heute 78 Jahre alt. Unlängst brach sie ihr 30jähriges Schweigen und erneuerte ihr Bekenntnis zu ihrem »seligen Adolf«, der ein »guter Onkel« war und ein »fesselnder und interessanter Mensch«. Was jenseits von Bayreuth auch noch geschah: der Krieg, die Konzentrationslager, hat sie zwar wahrgenommen, es ließ sie aber kalt, »Ich bin«, sagt sie, »ein restlos unpolitischer Mensch.«
Man mag sagen, das sei ein Einzelfall, nicht symptomatisch für Bayreuth. Gewiß. Aber was mich daran erschreckt, ist nicht eigentlich Winifried Wagners Starrheit und Unbelehrbarkeit, nicht also, was sie sagt (es war bekannt), sondern daß sie es sagt. Daß sie es heute sagt. Die den Film sahen, zeigten sich größtenteils davon fasziniert: Was für eine sympathische alte Dame! Man hob hervor, daß ihr Bekenntnis »mutig« und »aufrichtig« sei. Ich fürchte aber, daß es vor allem zeitgemäß ist. Daß es in eine nun schon gar nicht mehr so neue Stimmung im Westen paßt, in der der Faschismus seinen Schrecken verloren hat und in der es möglich ist, unter dem Vorwand pragmatischer Nüchternheit, auch noch dem Grauenvollen Faszination abzugewinnen. Nostalgie, Katastrophengelüste, schöne Götterdämmerung! Einer solchen Zeit müßte Wagner eigentlich liegen, seine dunkle Klangmagie, seine nächtige Schicksalswelt.
Von Bayreuth dürfte eine Wagner-Renaissance freilich kaum ausgehen. Dort ist seit dem Tod Wieland Wagners eine gewisse Stagnation eingetreten. Wolfgang« Wagner hat sich im wesentlichen damit begnügt, die dunkle Szene seines Bruders wieder etwas aufzuhellen. Der gesellschaftliche Umbruch Ende der 60er Jahre wurde in Bayreuth verschlafen. Nur Götz Friedrich hat eine aggressive »Tannhäuser«-Inszenierung abgeliefert, die auch prompt Skandal machte und später retuschiert wurde. Für die aktuelle Wagner-Diskussion jedenfalls haben Joachim Herz in Leipzig, Götz Friedrich in London und Ulrich Melchinger in der Kasseler Provinz mehr geleistet als die routiniert-solide Praxis, die derzeit in Bayreuth geübt wird.
Aber das will wenig bedeuten. Bayreuth hat den uneinholbaren Vorsprung seiner »Idee«, die mit einem spezifischen Erlebniswert verbunden ist. Künstlerische Umbrüche oder gar Fortschritte, Erkenntnis, helle Rationalität haben sich damit immer schon schlecht vertragen, zumal wenn beim Publikum eher ein Bedürfnis nach sinnlichem Zauber, nach Musik als Narkotikum, nach Kunstreligion besteht. Steckt Bayreuth nicht die Gesellschaft an, so steckt die Gesellschaft vielleicht Bayreuth an. Würde man Festspiel-Reisende Anna 1976 mit Bayreuths Vergangenheit konfrontieren, würde es, fürchte ich, heißen: Man möge endlich einen Schlußstrich ziehen, sich auf Wagners »wahres Erbe« besinnen.
Das könnte nun manchem so passen. Wir brauchen weder einen Kult Wagners noch seine Neutralisierung zu unpolitischer Feiertagskultur. Was wir aber brauchen, was Bayreuth braucht, ist eine redliche Auseinandersetzung mit seiner Geschichte. Jenen nicht geringen Rest eingeschlossen, der daran zu tragen peinlich ist.