MUSIK / GILELS Beef und Bier
Dem toten Beethoven zu Ehren eilten jüngst die teuersten Interpreten der Welt an den Rhein:
Beim Bonner Beethovenfest konkurrierten der Chilene Claudio Arrau, der Italiener Arturo Benedetti Michelangeh, der Deutsche Wilhelm Kempff am Klavier. Der Franzose Pierre Fournier strich das Cello, der Österreicher Wolfgang Schneiderhan die Geige.
Doch keiner spielte den Meister mit mehr Schliff als der russische Pianist Emil Grigorjewitsch Gileis, 53.
Er machte hörbar, was andere Klavierspieler auf der Suche nach Tiefgang verwischen: die klassischen Strukturen in Beethovens Sonatensatz.
Und das war in der Tat erstaunlich. Denn seit seinem US-Debüt 1955 und der ersten Deutschland-Tournee vor zehn Jahren, als die Münchner dem Moskauer Professor stehend applaudierten, galt Gilels als der Muskelprotz unter den führenden Flügel-Männern.
Zwar konnte er für seine Konzerte in Leningrad, Philadelphia, Prag, Tokio, Brüssel und Stockholm zwischen 300 Titeln von Scarlatti bis Schostakowitsch wählen, doch am liebsten setzten die Musikmanager den Virtuosen für die romantischen Reißer von Liszt, Tschaikowski und Rachmaninow ans Klavier.
Auch auf den »Melodia«-Aufnahmen, die die Bertelsmann-Tochter »Ariola-Eurodisc« aus der UdSSR importiert, spielte Gileis den starken Mann: Seine Mozart-Einspielungen blieben im -- freilich mustergültigen -- Passagenwerk stecken. Seine Beethoven-Interpretationen waren häufig zu Tschaikowski-Pathos aufgebauscht. Nun aber hat sich Gilels endgültig als »virtuosester, sicherster, kräftigster und unfehlbarster aller Interpreten« ("Süddeutsche Zeitung") etabliert. Seine letzte eingespielte Kassette mit den fünf Beethoven-Konzerten ist eine derzeit konkurrenzlose Kombination von pianistischer Perfektion und klassischer Dramaturgie.
Dieser Durchbruch in die Elite der internationalen Beethovenspieler bedeutet eine Flucht aus der alten, romantischen, russischen Klavierschule.
Die hatte der Sohn litauischer Eltern mit sechs Jahren in seiner Heimatstadt Odessa kennengelernt und so fleißig gepaukt, daß er schon mit 13 öffentlich auftreten und mit 19 ins Moskauer Konservatorium überwechseln durfte.
»Du bist doch ein Mann, der Beefsteaks essen und Bier trinken kann«, empfing ihn dort der deutschstämmige Klavierpädagoge Heinrich Neuhaus, »aber man hat dich bis jetzt mit Kinderbrei gefüttert.«
Neuhaus, der die gesamte Pianisten-Elite der UdSSR, darunter auch Swjatoslaw Richter, aufgezogen hatte, lehrte seinen Schüler nicht nur Fingersatz und Grifftechnik, sondern auch Kontrapunkt, Kammermusik und symphonische Literatur. 1937 verließ Gileis dieses »Paradies pianistischer Meisterschaft« und gewann beim Brüsseler Wettbewerb »Concours Reine Elisabeth« den Ersten Preis.
Der Zweite Weltkrieg verhinderte sein Amerika-Debüt: Statt bei der New Yorker Weltausstellung spielte Gilels im Evakuierungsdomizil Swerdlowsk. Hinter der Front schlug er die Tasten für Rotarmisten.
1951 durfte Gilels, der mit einer Komponistin verheiratet und mit dem Geiger Leonid Kogan verschwägert ist, zum Musikfrühling nach Florenz ausreisen, 1954 den alliierten Außenministern zur Berliner Konferenz aufspielen, 1955 zum zehnjährigen Uno-Jubiläum im New Yorker Glaspalast musizieren und 1956 mit Bulganin und Chruschtschow auf Staatsvisite nach London gehen.
So viel patriotischen Dank weiß der Meisterspieler zu schätzen: Während er selbst immer seltener die Bravourstücke der zaristischen Romantiker donnert und statt dessen zu den Wiener Klassikern flüchtet, debütierte seine Tochter jüngst in Amerika mit einem vaterländischen Bestseller: dem b-Moll-Klavierkonzert von Tschalkowski.
Mit demselben Stück hatte auch Emil Gilels seine Weltkarriere begonnen.