THEATER Beihilfe zum Holocaust?
Die einfache, schreckliche Wahrheit ist, daß die Juden in Ungarn nicht nur durch die Gewalt deutscher Waffen umkamen, sondern durch den kalkulierten Verrat ihrer eigenen jüdischen Führer.«
Die schwere Beschuldigung ist einer der Kernsätze in einem fiktiven Tribunal: Mit massiver Gegenklage wehrt sich eine Journalistin gegen den Vorwurf, sie habe einen Überlebenden des Holocaust zu Unrecht beschuldigt, während der Judenverfolgungen in Ungarn 1944 mit den Nazis kollaboriert zu haben. Der so Beschuldigte hat die Frau vor Gericht gebracht, doch im Laufe der Verhandlung haben sich die Seiten verkehrt: Der Kläger wurde selber zum Angeklagten.
Der Theater-Prozeß um eines der umstrittensten Kapitel in der Geschichte des Holocaust sollte dieser Tage über die Bühne des Royal Court Theatre in London gehen.
Doch bislang fand er nur unter Ausschluß der Öffentlichkeit - auf der Probe - statt: »Position« (Vernichtung, Ewige Verdammnis), das erste Bühnenstück des Autors Jim Allen, 60, der durch eine Reihe von sozialkritischen Fernsehspielen bekannt geworden ist, löste bereits vor der Uraufführung heftige Kontroversen aus. Die Presse hatte im voraus über das Stück berichtet, daraufhin drohten jüdische Studenten Demonstrationen an. Da sich »Perdition«, anders als Fassbinders »Der Müll, die Stadt und der Tod«, auf historische Ereignisse beruft, gaben beide Seiten Gutachten bei Historikern in Auftrag. Die meldeten massive Bedenken an.
Schließlich, nur 24 Stunden vor der ersten öffentlichen Generalprobe, senkte sich der Vorhang des sonst als konfliktfreudig bekannten Royal Court endgültig über dem Projekt. Es stehe zu befürchten, so der künstlerische Leiter des Theaters, Max Stafford Clark, daß es »Teilen der jüdischen Bevölkerung großen Kummer bereiten« würde.
Doch auch nach der Streichung vom Spielplan bleibt »Perdition« Gesprächsthema Nummer eins in Londons Theaterkreisen. Weiter wogt in den Leserbriefspalten der Zeitungen, insbesondere des »Guardian«, der Meinungsstreit, und wie ein englisches Samisdat kursieren frühe Entwürfe des ursprünglich viereinhalb Stunden langen Stückes. Die vorläufig letzte Fassung- jene also, die das Publikum vergangene Woche hätte sehen sollen - wird, wie einst bei manchem Hochhuth-Stück, unter Verschluß gehalten. Zur Zeit suchen Schauspieler und Regisseur nach einem neuen Theater.
Die Gegner des Dramas werfen ihm vor, daß es historische Fakten verdrehe, um einem polemischen Ziel zu dienen, nämlich, wie Allen es in einem Interview nennt: »Die Juden vor dem Zionismus zu warnen«. Doch sowenig der Autor - Trotzkist, ehemaliger Bergarbeiter, Maurer, Schauermann - einen Hehl aus seiner Zionismus kritischen Haltung macht, so sehr wehrt er sich gegen den Vorwurf des Antisemitismus.
Sein Stück basiert auf einem Prozeß in Jerusalem, der in den fünfziger Jahren die Innenpolitik des jungen Staates beherrschte, und schließlich sogar die damals von der Arbeiterpartei gestellte Regierung aus den Angeln hob. Der Beamte Malchiel Gruenwald, Anhänger der rechtsextremen Irgun-Gruppierung, hatte einen führenden ungarischen Zionisten, Rudolf Kastner, der inzwischen ein enger Berater der Regierung in Tel Aviv geworden war, schwer beschuldigt: 1944 habe er mit den Nazis kollaboriert und die luden nicht rechtzeitig vor den Vernichtungsplänen Adolf Eichmanns gewarnt.
Die Regierung brachte damals Gruenwald wegen Verleumdung vor Gericht, aber dann war es Kastner, der sich gegen den Vorwurf verteidigen mußte, er hätte den Nazis eine Million Dollar bezahlt, um einen Zug mit 1700 Juden, darunter seine eigene Familie, in die Schweiz in Sicherheit zu bringen. Gruenwald wurde freigesprochen; Kastner legte Berufung ein, aber er wurde ermordet, noch bevor er zu vielen, bis heute ungeklärten Fragen Stellung nehmen konnte.
Ein Dokumentarspiel des israelischen Autors Moti Lemer, das im vergangenen Jahr in Jerusalem gezeigt wurde, unternahm den Versuch, den Kastner-Fall zu rekonstruieren. Anders Jim Allens Dramatisierung: Er verlegt die Handlung ins England des Jahres 1967, unmittelbar nach dem Sechs-Tage-Krieg. Den Vorwurf gegen Kastner (der in »Perdition« Yaron heißt) weitet er aus zu der Behauptung, die Zionisten in Ungarn hätten mit dem von Eichmann eingesetzten Judenrat zusammengearbeitet - ja, sogar in diesem gesessen - um sich für die Zeit nach dem Kriege, wenn es um die Gründung eines Staates Israel ginge, durch ein solches Opfer ihrer eigenen Leute größere Legitimation zu verschaffen. Der Holocaust als Voraussetzung für Israel?
Nach der Absetzung muß nun das Royal Court, das durch die Jahre immer wieder mit radikalem Mut sozialkritische Stücke uraufgeführt hat, mit dem Ruch der Zensur leben. Max Stafford-Clark betont, es sei seine eigene Entscheidung gewesen, er habe keinen Drohungen nachgegeben.
»Perdition«-Regisseur Kenneth Loach allerdings zögert nicht, nach der Streichung des Stücks zu konstatieren, man sei »das Opfer einer kleinen zionistischen Gruppe« geworden, »die sich die Entscheidung erkauft habe«.
Dagegen Joshua Sobol, der einseitiger Stellungnahmen unverdächtige israelische Autor ("Ghetto«, »Die Palästinenserin"): Er bezeichnet Allens Grundthese, daß die Zionisten wissentlich den Nazis zugearbeitet hätten, um die Weltmeinung für einen neuen Staat Israel einzunehmen, als »Absurdität": »Wenn immer es in den Gettos eine Widerstandsbewegung gab, ist sie von zionistischen Jugendgruppen organisiert worden.«