POPMUSIK Beklagte Verluste
Wenn es Nacht wird in Manhattan, dann bricht das verschärfte Leben erst los: Der Strichjunge von nebenan macht sich auf zu seinem Stammplatz an der Straßenecke, Madame Venus zieht die Peitsche aus dem Halfter, und der Drogenfreak wankt zum Händler seines Vertrauens. Grelle Lichter, schwüler Sex und üble Geschäfte: Es ist eine schmutzige und gefährliche Welt - und es ist die Welt von gestern; die Welt, die Lou Reed 20 Jahre lang glorifizierte und beschwor.
Das Chaos ist aufgebraucht, die wilden Zeiten sind vorbei. Wenn es demnächst einmal Nacht wird in Manhattan, dann wird es für immer sein: Die Fluten des Hudson werden über der Insel zusammenschwappen, wie ein Stein sinkt Manhattan in den brackigen Fluß. Diese finstere Prophezeiung findet sich auf Lou Reeds jüngstem Plattenwerk »New York«, hoch gelobt von fast allen Kritikern und laut US-Zeitschrift »Rolling Stone« die »Rock'n'Roll-Version von Tom Wolfes ,Fegefeuer der Eitelkeiten'«.
Was die Fachleute für Begleitmusik zum Erfolgsroman halten, soll nach dem Willen des Meisters selbst wie ein Schmöker genossen werden. Auf der Plattenhülle findet sich der Wunsch, man möge die 14 Songs des 58-Minuten-Kompendiums sitzend und als Gesamtwerk auf sich wirken lassen, »als ob es ein Buch wäre oder ein Film«.
Lou Reed, der am Samstag dieser Woche in Hamburg eine kurze Gastspielreise durch die Bundesrepublik beginnt, stellt durchaus Ansprüche an Zuhörer und Fans: Höhepunkt der bislang letzten Reed-Tournee durch deutsche Konzerthallen war 1979 eine Massenschlägerei in Offenbach, bei der auch der Sänger die Fäuste fliegen ließ - und daraufhin von der Polizei festgenommen wurde.
Derartiges aber ist diesmal kaum zu befürchten. Denn Lou Reed, inzwischen 47 und nach zwei Jahrzehnten im Rockgeschäft aus dem Gröbsten heraus, scheint geradezu weise geworden; geläutert, nüchtern und seriös wie nie zuvor zieht er Bilanz. »New York« ist das Dokument dieser späten Wandlung, der Abschied von feuchter Erotik und koketter Todessucht. Im Klassiker »Heroin« sang Reed einst, »Heroin ist meine Frau und mein Leben, Heroin ist auch mein Tod«. Heute läßt er verbreiten, er habe seit zwei Jahren weder Rauschmittel noch harte Drinks angerührt.
Die Motive der neuen Enthaltsamkeit sind auch das Thema des jüngsten, gefeierten Platten-Opus'. Reed, früher berüchtigt für ebenso poetische wie mehrdeutige Anspielungen, benennt in ungewohnter Klarheit die Geißeln, die das Dorado New York in ein biblisches Gomorra verwandelt haben: Gewalt, Drogen und eine korrupte Politik, dazu jene Seuche, die der fröhlichen Libertinage im Zentrum der westlichen Zivilisation ein grauses Ende machte. Auch Aids ist nur ein Four-Letter-Word, allerdings nicht nur das neueste, sondern auch das schrecklichste.
Lou Reed, vor dem Berufswechsel ins Popgeschäft Schauspielschüler und Journalist, registriert die sich lichtenden Reihen bei der alljährlichen Parade auf der Christopher Street: Das Fest der Schwulen und Transsexuellen ist zum Totentanz mutiert ("Halloween Parade"). Der singende Streetworker schildert die Tricks der Crack-Dealer ("Romeo had Juliette") und beklagt die bevorstehende ökologische Katastrophe ("The Last Great American Whale").
Mehr als alles andere aber schmerzt den Gereiften der Verlust naher Freunde, am allerschlimmsten der Tod von Andy Warhol. Der damals längst berühmte Pop-Artist Warhol war es, der den Sänger Reed samt der damals völlig unbekannten Band »The Velvet Underground« 1966 in seine Familie aufnahm - zusammen mit dem walisischen Musikstudenten John Cale und der Schlagzeugerin Maureen »Mo« Tucker.
Das Weitere ist Legende: Fünf Jahre lang existierte diese »Velvet Underground«, zeitweise lieh die deutsche Sängerin Christa Päffgen, genannt Nico (auch eine Warhol-Entdeckung), der anarchischen Künstlerkapelle ihre Stimme. Der Einfluß der Underground-Mitspieler auf die Musik der folgenden Jahrzehnte läßt sich allenfalls mit dem der Beatles vergleichen.
Nach der Trennung 1970 blieb Lou Reed im Dunstkreis der Warhol-Gemeinde, war aber auch im Alleingang erfolgreich. Vor allem das Solo-Album »Transformer«, erschienen 1972, sicherte ihm weiteren Ruhm, der von dieser Platte stammende Song »Walk On The Wild Side« ist bis heute Reeds Erkennungsnummer. Sarkastisch, drastisch und mitunter schockierend deutlich feierte der Mann die letzten Abenteuer in langweiliger Zeit, die sündigen Vergnügungen einer turbulenten Szene.
Aus dem scheinbar unbeteiligten Chronisten aber wurde bald ein finster Verstrickter: Der Pop-Star Lou Reed versank in Drogenrausch und Lethargie, Konzerte und Platten gerieten immer öfter zu grimmig exerzierten Horrortrips. Auf der Bühne simulierte der Meister schon mal das Spritzen einer Heroin-Dosis, nicht wenige Beobachter hatten ihn bereits als Leiche auf Urlaub abgeschrieben.
Heute ist Lou Reed einer der wenigen Überlebenden dieser wilden Zeit, schon vor Nicos Tod auf der Urlaubsinsel Ibiza (sie starb, als sie, zum erstenmal clean in 20 Jahren Pop-Karriere, bei einer Ausflugsfahrt vom Fahrrad fiel) hat es auch den übergroßen Freund und Förderer Warhol erwischt.
Dem Sterben Andy Warhols hat Reed auf »New York« einen eigenen Song gewidmet, eine Phantasie über die letzten Minuten des Pop-Heiligen. Die letzte Versuchung des Andy Warhol, so heißt es dort, müsse ein Augenblick der Wahrheit gewesen sein: »Ganz Mensch, ganz Gott, und geteilt/ die große unsterbliche Seele.«
Ein Schlachtfeld wird besichtigt, das schon. Daß Reed jedoch die Fehler der Vergangenheit zu erkennen glaubt, daß er die »weggeworfene Zeit« betrauert, hat mit Resignation nichts zu tun. Wie ein Prophet in der Wüste wandelt der erleuchtete Lou durch die Straßen New Yorks, und seine musikalische Botschaft ist nicht nur klar und einfach wie seine Bilanz, sondern auch ein hoffnungsfrohes Bekenntnis. Es steht gedruckt auf der Rückseite des Plattenumschlags und lautet:
»Es geht nichts über zwei Gitarren, Baß, Schlagzeug.« Das ist die ganze Wahrheit. #