Fiktive Architektur für Nord Stream 2 Schlafkojen für den Frieden

Könnte Nord Stream 2 doch noch zu etwas gut sein? Der junge Münchner Architekt Benedikt Hartl will aus den Rohren der Pipeline eine Art Wasserschloss bauen.
Hartls Entwurf für »Nord Stream 3«: »Vollversammlung der kleinen Leute«

Hartls Entwurf für »Nord Stream 3«: »Vollversammlung der kleinen Leute«

Foto: Opposite Office / Benedikt Hartl Architektur

Der Münchner Architekt Benedikt Hartl, 35, hat es international bereits zu ziemlicher Bekanntheit gebracht. Über einige seiner völlig unrealistischen Entwürfe wird in seiner Branche mehr geredet als über viele echte Bauten etablierter Kollegen. Im April 2020 regte er beispielsweise an, den neuen Berliner Flughafen zum Covid-Superhospital umzugestalten. Und aus dem Kapitol in Washington wollte er nach der Erstürmung im Januar 2021 eine düstere Trutzburg machen.

Entwurf für »Nord Stream 3«: 400 Meter Pipeline über statt unter dem Wasser

Entwurf für »Nord Stream 3«: 400 Meter Pipeline über statt unter dem Wasser

Foto: Opposite Office / Benedikt Hartl Architektur

Im Grunde ist Hartl, der 2017 seine Architekturfirma Opposite Office gründete, ein Spezialist für utopische oder eher dystopische Umbauten. Oft ist er da ziemlich spontan, reagiert innerhalb weniger Tage und damit sozusagen akut auf Entwicklungen.

»Nord Stream 3«

In dieser Woche wird er mit einem weiteren Luftschloss – oder eher einem Wasserschloss – an die Öffentlichkeit treten, an dem er etwas länger gearbeitet hat. Aus der noch nicht in Betrieb genommenen Erdgaspipeline Nord Stream 2 will er »Nord Stream 3« machen. Das wäre eine fiktive, fünfgeschossige Unterkunft, die nicht an der Ostsee, sondern in der Ostsee stehen würde. Sie besäße 194 Schlafkojen, die – natürlich – aus den recycelten Röhren bestehen sollen.

Innenanischt der fiktiven Unterkunft: Spartanisch wie ein japanisches Kapselhotel

Innenanischt der fiktiven Unterkunft: Spartanisch wie ein japanisches Kapselhotel

Foto: Opposite Office / Benedikt Hartl Architektur

Die erste Gaspipeline ging bereits vor elf Jahren in Betrieb, das Genehmigungsverfahren für die zweite wurde wegen Putins Invasion gestoppt – und er könne sich nicht vorstellen, sagt Hartl, dass man die in den kommenden Jahren nutzen werde. Warum sich bei der Gelegenheit nicht endgültig verabschieden von Gaslieferungen, die Europa abhängiger machten vom autokratischen, kriegsführenden Russland und überdies einer Wende hin zu regenerativen Energien im Weg stünden? Fürs Erste würde er 400 Meter Pipeline »wieder aus dem Meer holen«, wie er sagt.

In der deutschen Anlandestation in dem Küstenort Lubmin bei Greifswald ließe sich damit ein Zentrum für Völkerverständigung errichten, eines, in dem man auch übernachten kann. Die gestapelten, mit Beton ummantelten Schlafröhren würden per Zufallsgenerator an Menschen weltweit verlost, so könne jeder Staat eine Koje belegen.

Jugendherberge ohne Altersbegrenzung

Die Gäste sollten jeweils einen Monat bleiben, dann kämen neue, laut Projektbeschreibung entsteht so »ein interkultureller Austausch, der Freundschaften ermöglicht und Vorurteile abbaut«. Damit erwachse eine »Vollversammlung der Vereinten Nationen der kleinen Leute, der Bürgerinnen und Bürger dieser Welt«. »Nord Stream 3« wäre eine Jugendherberge ohne Altersbegrenzung.

Den Entwürfen zufolge stünde das Gebäude im Wasser nahe der Küste und wäre über einen Steg erreichbar. Für das Dach würden halbe Röhren verbaut. Außen würden bunte Flaggen wehen, doch alles in allem wirkt der Entwurf eher brutalistisch. Die Schlafplätze wären sehr spartanisch, Hartl ließ sich nach eigener Aussage von japanischen Kapselhotels inspirieren. Es würde allerdings an Privatsphäre fehlen, die Röhren sind ja offen. Ob so viel Nähe der Völkerverständigung wirklich dienen würde? »Klar«, findet Hartl.

Die Frage ist natürlich, ob so viel Phantasie erlaubt ist in einer Zeit, da Millionen Menschen einen echten Zufluchtsort brauchen. Ist Hartl dieses Mal zu weit gegangen? Das hoffe er nicht, betont er.

Weitere Ansicht von Hartls Röhrenbau: Metaphern fürs Umdenken

Weitere Ansicht von Hartls Röhrenbau: Metaphern fürs Umdenken

Foto: Opposite Office / Benedikt Hartl Architektur

Hartl ist sicher kein Zyniker, die Realität ist immer unfassbarer als seine Zeichnungen. Direkt auf den Krieg in der Ukraine zu reagieren, wäre ihm tatsächlich unangemessen erschienen, sagt er. »Ich will erst einmal nur die Frage stellen, wie wir langfristig mit dieser Pipeline umgehen«. Pläne zur Umnutzung werden bei ihm zur Metapher fürs Umdenken.

Zugleich erinnert er daran, wie eng Politik, Gesellschaft und gebaute Welt miteinander verknüpft sind. So richtig deutlich wird das erst, wenn man statt der üblichen Bilder (vom Berliner Flughafen, vom Kapitol, vom Verschweißen der Rohre) die viel überraschenderen Gegenbilder sieht.

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