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KÖRPERSPRACHE Beredtes Schweigen

In einem neuen Werk berichtet der englische Zoologe Desmond Morris ("Der nackte Affe") über die Gestensprache des Menschen: Sie ist oft verräterisch, wo Worte lügen.
aus DER SPIEGEL 8/1978

Was bezweckt das Menschenweibchen eigentlich, wenn es sich die Lippen schminkt? Der britische Zoologe Desmond Morris hat es herausgefunden: Es sendet »sexuelle Frontalsignale« aus.

Denn statt wie »ein Affen- oder Menschenaffenweibchen einem Mann ostentativ das Gesäß hinzurecken«, male sich die zivilisierte Äffin mit der aufrechten Gangart schwellende Genital-Symbole ins Gesicht: Das Säugetier im Menschen greift zum Lippenstift.

Auch wenn ein Homo sapiens einem anderen zublinzelt, zur Begrüßung die Hand schüttelt oder ihm eine lange Nase dreht, kann der Verhaltensforscher Morris daran so Menschliches nicht finden. Während dieser jahrmillionenlangen Entwicklungsgeschichte, behauptet er, sei der Mensch »ein gestikulierender, sich in Positur setzender und ständig bewegender, ausdrucksfähiger Primat« geblieben, der -- so die neueste Morris-These -- die deutlichsten Mitteilungen macht, wenn er schweigt.

Wieder einmal hat Bestseller-Autor Morris, 50 ("Der nackte Affe«, »Der Menschen-Zoo"« »Liebe geht durch die Haut"), einen Grund gefunden, das seltsame Gebahren des Kultur-Affen Mensch mit Hilfe der vergleichenden Verhaltensforschung zu deuten.

»Der Mensch, mit dem wir leben« -- so der Titel eines neuen Morris-Buchs -, bediene sich nämlich derselben Haltungen, Gesten und Signale, um etwa sein Territorium zu markieren, seinen Rang in der Gesellschaft zu demonstrieren, bei Gefahr oder Freude zu reagieren, seine sexuelle Bereitschaft zu signalisieren, seine Stimmungen, Absichten und Ausflüchte zu verbergen, wie schon die Höhlen- und Hordenmenschen der Vorzeit.

Dieses »Untergrund-Kommunikationssystem« nichtverbaler Signale, »das unmittelbar unter der Oberfläche unserer gesellschaftlichen Kontakte arbeitet«, hat Menschenbeobachter Morris nun in mehrjähriger Forscherarbeit aufgedeckt, analysiert und in einem großformatigen Bildband dargelegt.

Das umfangreiche Werk erscheint Anfang März in der Bundesrepublik (außerdem in England, Finnland, Frankreich, Holland, Italien, Japan, Jugoslawien, Portugal und Schweden) -- allem Anschein nach die erste Enzyklopädie der menschlichen Gestik, die je publiziert wurde*.

Zehn Jahre lang hat Morris, versehen mit einem Forschungsauftrag des

* Desmond Morris: »Der Mensch, mit dem wir leben«. Verlag Droemer Knaur, München: 230 Seiten, 680 Farbphotos, Zeichnungen und Diagramme; 49,50 Mark.

Oxforder Wolfson College, in über 15 Ländern vergleichende Studien getrieben und mit Zoologenblick seine Mitmenschen belauert, »wie ein Vogelkundler Vögel beobachtet«.

Er forschte an Straßenecken und Bushaltestellen, in Flughafenhallen, Supermärkten und in Restaurants, in Parks, Pissoirs und sogar bei Hof.

Am liebsten aber tat sich der Gesten-Detektiv auf Partys um. Dort fand er nach eigenem Bekunden ein ergiebigeres Feld für seine Spekulationen, »als wenn ich eine teure Forschungsreise in die Wälder von Tansania unternommen hätte, um dort das Verhalten von Affen zu studieren«.

Besonders freute sich der Menschenforscher über eine Einladung zu einer Garten-Party im Buckingham-Palast. »Ich wußte gleich, daß ich dort eine Menge Neues über Unterwerfungsgesten wie Verbeugungen und Knickse erfahren würde.«

Ursprünglich hatte Morris das Werk als internationales Lexikon sämtlicher Gesten und Handlungen konzipiert, deren ein Mensch überhaupt fähig ist, Dazu versuchte er, Tausende von Gesten-Zetteln, mit denen er die Wände seines Arbeitszimmers vollgepinnt hatte, nach anatomischen Gesichtspunkten zu ordnen »Nach über einem Jahr Arbeit -- körperabwärts wohlgemerkt«, so berichtet er, »war ich schließlich bei den Augenbrauen angelangt.«

Allein vermittels seiner Augenbrauen, hatte der Gestenforscher akribisch recherchiert, kann der Mensch 102 verschiedene Signale senden. »Bis zu den Füßen«, so der Wissenschaftler, »brauchte ich auf diese Weise, vorsichtig geschätzt, ungefähr dreißig Jahre.«

Morris entschloß sich, die wortlosen Mitteilungen des Menschen nach Zweckursprung und geographischer Verbreitung der verschiedenen Gesten und Signale aufzuschlüsseln.

Allein um ein anziehendes weibliches Wesen zu beschreiben, stehen dem Männchen der gestisch begabten Gattung Homo nach Morris« Rechnung mindestens zwölf verschiedene Gesten zur Verfügung, darunter beispielsweise: > Die Wangensehraube -- der ausgestreckte Zeigefinger wird in die Wange hineingedrückt und gedreht. Könnte nach Morris »eine köstliche Speise symbolisieren«. Diese Geste ist in Italien einschließlich Sardinien und Sizilien verbreitet. > Die Taillenkurve -- die Hände ahmen »in übertriebener Form den Umriß des weiblichen Körpers nach«. Die Geste werde weithin verstanden, vor allem in englischsprechenden Ländern.

* Der Brustkelch -- die Hände öffnen sich kelchförmig in der Luft, als umschlössen und drückten sie die Brüste des Mädchens. Diese eindeutige Geste ist in Europa und anderen Gegenden populär und wird -- so Morris -- »selbst von denen verstanden, die sie nicht benutzen«. Andererseits kann eine bestimmte Geste, wie Morris nachweist, in verschiedenen Ländern unterschiedliche Bedeutung haben.

In den USA beispielsweise meint der mit Daumen und Zeigefinger geformte Kreis »0. K.«, in Japan hingegen bedeutet dasselbe Zeichen »Geld«, in Frankreich signalisiert es »null oder wertlos«, in Malta »weckt die Handhaltung stark anale Assoziationen« und denunziert einen Homosexuellen, in Griechenland und Sardinien ist das Kreiszeichen eindeutig obszön.

Ähnliches gilt übrigens für den aufgerichteten Daumen der Tramper, der in Sardinien als obszöne Beleidigung gilt. Gestenunkundigen empfiehlt Morris daher, dort einem Auto lieber mit der ganzen Hand zuzuwinken (was in Griechenland allerdings wieder mißverstanden werden könnte, falls die Handfläche nach vorn weist).

Weiter hat Menschen- und Affenforscher Morris Hunderte von sogenannten »Hand-Kopf«-Selbstberührungen untersucht. Er wollte herausfinden, »mit welchen Bewegungen man sich als Erwachsener in dieser Streßgesellschaft am häufigsten ein wenig Trost und Beruhigung verschafft«.

Fazit: Am verbreitetsten ist die »Kieferstütze«, gefolgt von der »Kinnstütze«, der »Haarberührung«, der »Wangenstütze«, der »Mundberührung« und der »Schläfenstütze«. Frauen, so fiel ihm auf, fassen sich dreimal so oft an die Haare wie Männer. Die wiederum stützen angeblich doppelt so oft wie Frauen eine Schläfe in die Hand -- besonders in Augenblicken »der Konzentration oder der Langeweile«.

Solche Selbstberührungen, wie etwa das sich am Kopf kratzen, in die Wange kneifen, sich die Augen ausreiben oder auf den Finger beißen, sind nach Morris oft auch »Übersprungshandlungen« -- Gesten, die inneren Konflikt oder Frustration widerspiegeln.

Nicht selten, meint Morris, scheitere das Bemühen des Herdenmenschen, die Umwelt über seine Gefühle oder Absichten zu täuschen, er verrät sich durch »ungewollte, nicht verbale Informationen": Er scharrt mit den Füßen, rutscht auf dem Stuhl hin und her, bedeckt den Mund mit der Hand, zupft sich am Ohrläppchen oder kneift sich in die Nase -- für Morris alles sichere Zeichen: »Da stimmt was nicht.«

Lügen könne der Mensch, behauptet Morris. nur mit Worten, kaum jemals aber mit dem ganzen Körper; irgendein Körperreflex werde ihn meist verraten.

Morris entwickelte sogar eine Art Glaubwürdigkeitsskala der Körpersprache, auf der die sogenannten autonomen Signale wie Schwitzen, Erröten und Erbleichen ganz oben rangieren, weil sie sich der Kontrolle entziehen. Es folgen die Beine und Füße, deren Bewegungen der Mensch gleichfalls kaum bewußt steuern könne.

Handbewegungen und Handhaltungen dagegen seien häufiger Täuschungsmanöver, und dem Gesichtsausdruck oder gar Worten sei schon gar nicht zu trauen. »Wenn ein Politiker mit dem Finger in die Luft sticht, während er von friedlicher Koexistenz spricht«, rät der britische Gestenkundler, »dann sollten wir seiner Handbewegung Glauben schenken und nicht dem, was er sagt.«

Politiker hält Morris übrigens wie Berufsdiplomaten, Rechtsanwälte, Zauberer, Gebrauchtwagenhändler und Immobilienmakler für ausgefuchste Profi-Täuscher. »Wenn sie nicht imstande sind, erfolgreich zu lügen und ihre Lügen auch durchzuhalten, sind sie im Beruf zum Mißerfolg verurteilt.«

Körpersignale, die als Gewähr dafür dienen könnten, daß ein Politiker einmal die volle Wahrheit sagt, hat Morris bei seinen zehnjährigen Forschungen noch nicht entdeckt.

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