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BESCHEIDEN VOR DER REALITÄT

aus DER SPIEGEL 27/1966

Volker Schloendorff, 27, ist für seinen Erstlingsfilm »Der junge Törless« In Cannes mit dem internationalen Filmkritiker-Preis, letzte Woche in Berlin auch mit einem Bundesfilmpreis ausgezeichnet worden. Er hat als Regieassistent unter anderem bei den französischen Filmregisseuren Louis Malle ("Zazie«, »Privatleben«, »Viva Markia") und Alain Resnais ("Letzes Jahr in Marienbad") gearbeitet und gelernt. Seine Besprechung des von dem deutschen Filmkritiker Ulrich Gregor, 34, herausgegebenen Sammelbandes »Wie sie filmen. Fünfzehn Gespräche mit Regisseuren der Gegenwart« nennt Schloendorff, Protagonist der zunehmend erfolgreichen jungen deutschen Regisseur-Generation, selber »eigentlich mehr ein Manifest«.

Interviews mit fünfzehn Regisseuren über ihre Arbeit am Film, vom Drehbuch über Dreharbeit und Schnitt bis zur Tonmischung; Werkstattgespräche, moderne Sachlichkeit, Methodik et cetera

- unter dieser modischen Fahne segelt

das Buch. Um diesem Anspruch aber gerecht zu werden, hätten der Herausgeber, Ulrich Gregor und seine Mitarbeiter ein Buch für Filmspezialisten herstellen müssen, ein Buch, das auch kleinste technische Details erörtert, wie jedes richtige Sachbuch über jeden hochspezialisierten Beruf.

Das aber hat Gregor nicht getan - er hätte es auch nicht gekonnt, da er kein Fachmänn in- diesen Dingen, sondern ein Ideologe ist. Sein Buch ist ein Sammelsurium von Interviews mit mehr oder weniger bedeutenden Regisseuren, die der Zufall zusammenbrachte. (Jedenfalls weigere ich mich, diese Sammlung als repräsentativ anzuerkennen; sie mag es wohl in Bezug auf die Filmtheorie des Herausgebers sein, nicht aber für die Wirklichkeit des Films in der Welt heute.)

Nicht »wie sie filmen«, geht daraus hervor, sondern wie sie reden. Und oft reden sie so wie sie filmen: Unmögliches, deutsches Akademikergeschwätz, gespickt mit »Kunst, Schaffensprozeß, Kunstwissenschaft, das Schöpferische an sich« bei dem Defa-Regisseur Konrad Wolf; Einfachheit und Ironie bei Luis Bunuel, explodierend bildreich bei Federico Fellini. Die sogenannten Werkstattgesprächs-Passagen sind äußerst langweilig und nichtssagend; nur da, wo die Interviewten ausbrechen, Anekdotisches erzählen oder Weltanschauliches erörtern, wird es interessant.

Das scheinen die Interviewer auch gespürt zu haben, denn ihre Fragen, bei dem zuerst geführten Interview, dem mit Wolfgang Staudte, noch bohrend präzise, werden bei den folgenden Befragungen immer allgemeiner. Sehr schnell lassen sie die Unterteilungen in verschiedene Tätigkeiten des Regisseurs - Drehbuch, Besetzung, Kamera, Ton, Schnitt und so weiter fallen, der allzu enge Begriff von »Regie« wird gesprengt.

Für den Regisseur ist das nämlich alles ein und dieselbe Arbeit. Jedenfalls für die hier Befragten - sie sind komplette »Autoren« ihrer Filme. Sie filmen, weil es ihnen schwerfällt, sich anders - malend, schreibend, tanzend, komponierend - auszudrücken. »Im allgemeinen entsteht in mir der Wunsch, einen Film zu machen, weil ich fühle, wie die Ansätze vieler Dinge, vieler Gedanken und Ideen sich in mir bewegen und nach oben drängen; und am besten gelingt es mir, zu verstehen, was in mir vorgeht, indem Ich einen Film über diese Dinge mache.«

Wer so, wie Fellini es hier formuliert, Filme dreht - nicht um eine »Aussage« an den Mann zu bringen, sondern um durch das Filmen seinen eigenen Standpunkt zu den Dingen zu klären -, für den zerfällt Film natürlich nicht mehr in verschiedene, sauber getrennte Arbeitsphasen. Immer, bei jeder Einzelheit, beim Schreiben, Drehen und Schneiden, setzt er sich mit der Wirklichkeit auseinander, versucht er, Erkenntnisse zu gewinnen, indem er sich und den Zuschauern etwas zeigt. Bewußt oder unbewußt bezieht er Stellung zur Realität, wenn er seine Kamera aufstellt oder fahren läßt, wenn er eine Person sympathisch oder neutral darstellt, wenn er einen Satz glaubwürdig klingen läßt, wenn er ein Bild lange stehen läßt oder nicht. Das Ganze ergibt dann ein auch für ihn selbst aufschlußreiches Bild seiner eigenen Haltung zu den Dingen - vorausgesetzt allerdings, daß er in allen diesen Momenten ehrlich und inspiriert bei der Sache war.

Ein präzises Drehbuch ist bei solchen Filmregisseuren, die besser Film-Autoren, Filmemacher zu nennen sind, undenkbar. Denn erstens sind sie unfähig, sich schreibend mit der Welt auseinanderzusetzen; sie brauchen den andauernden Kontakt mit der Materie. Und zweitens würden sie sich sogar weigern, ein solches Drehbuch zu schreiben, selbst wenn sie es könnten, denn sie fürchten mit Recht, daß es ihnen mit seinen präzisen Forderungen die Wirklichkeit im Augenblick des Drehens verstellt.

»All das ist keine Angelegenheit der Improvisation, sondern der Verfügbarkeit (disponibilità), der Offenheit gegenüber allem, was geschieht«, sagt Fellini. Es ist wichtiger, die beim Drehen aufeinanderstoßenden Elemente - Darsteller und Umgebung - in ihrer eigenen Wirklichkeit aufzunehmen, als sie einem vorgefaßten Aspekt anzupassen und in ein Schema zu zwingen.

»Ich möchte das einfangen, was sich wirklich ereignet« (Fellini). Die erste Arbeit für den modernen Filmemacher ist also zunächst einmal, dafür zu sorgen, daß sich überhaupt etwas »ereignet«. Wenn sich bei der Aufnahme vor der Kamera nichts ereignet, wird keine Vertonung, keine Ausleuchtung, keine Musik und keine Montage es je fertigbringen, daß sich später im Kino, auf der Leinwand und im Saal, etwas ereignet. Das ist, im Gegensatz zur herrischen Schule der Filmregie früherer Jahre, das Kredo der modernen Film-Autoren (die aber, wie Jean Vigo und Jean Renoir, auch schon in den dreißiger Jahren gearbeitet haben können).

Die meisten der hier Interviewten gehören zu dieser Schule der Bescheidenheit vor der Realität. Es fehlt allerdings Jean-Luc Godard, der als Mittelsmann zwischen dem reporterhaften Richard Leacock und dem ästhetisch subtilen Alain Resnais stehen könnte. Jedenfalls fassen fast alle ihr Medium den Film, als Methode zur Erkenntnis der Wirklichkeit auf, und daraus resultiert ihre Arbeitsweise, die, trotz unterschiedlicher Äußerungen, bei allen im Grunde die gleiche ist.

Das Drehbuch des modernen Filmemachers entsteht im Gespräch mit Freunden, Journalisten und Schriftstellern. Es geht auf ein Bild oder ein persönliches Erlebnis zurück, das sich meist im fertigen Film nicht wiederfindet. Es versucht in den Punkten, die den Produzenten wegen der Vorbereitung interessieren müssen - Darsteller, Bauten, Handlungsorte, Jahreszeiten -, einige genaue Angaben zu machen, führt aber die angeschlagenen Themen nicht aus, um dem Regisseur beim Drehen seine Spontaneität zu lassen. Ein solches Drehbuch widerspricht allen herkömmlichen Auffassungen von Filmregie, zum Beispiel der von Konrad Wolf, »wenn man erst einmal das feste Gerüst, den sicheren Leitfaden des optischen Drehbuches« habe, könne man auch »zielsicher, sinnvoller improvisieren«. Wolf vergißt dabei, daß eine solche »Improvisation« sich nur noch auf Details beziehen kann.

Beim Drehen selbst muß, wie Fellini sagt, »unter den Leuten unbedingt eine gute Stimmung herrschen; nur so lassen sich Personalkonflikte vermeiden. All dies gehört zu den, Aufgaben des Regisseurs«. John Hustons Filme zum Beispiel beziehen ihre Qualität zunächst einmal aus seiner Persönlichkeit, die es fertigbringt, Elizabeth Taylor, Ava Gardner, Richard Burton, Tennessee Williams oder wen sonst, der gerade beteiligt ist, unter extremen Bedingungen ein paar Wochen lang zu einer Gemeinschaft zu verketten. Huston fungiert als Zirkusdirektor, und das Klima, das er schafft, wird der Film, wenn er gelingt, wieder ausstrahlen.

Aus der »disponibilita« ergibt sich dann auch das Verhältnis des Regisseurs zum Schauspieler. Regisseure der alten Schule machen Filme mit Schauspielern; sie verlangen »Vielseitigkeit«, »Einfühlung in die Rolle« und ähnliches. Das Ergebnis ist die vorzügliche Leistung des Herrn Schauspielers X in der Rolle des Y. Alle Regiemethoden, von Stanislawski bis Strasberg, sind am Platze. Ob das Ergebnis alle diese Mühen rechtfertigt, bezweifle ich allerdings.

Die anderen Regisseure, diejenigen nämlich, die seit rund zehn Jahren den Film revolutioniert haben, drehen Filme über Darsteller. Der Schauspieler oder Laie, den sie filmen, ist ihnen als Mensch wichtiger denn die Rolle; sie machen einen Film über ihn - Godard über Anna Karina, Fellini über Giulietta Masina, Louis Malle über Brigitte Bardot ("Privatleben"), Robert Bresson über die unbekannte Anne Wyazemsky ("Zum Beispiel Balthazar").

Diese entscheidend neue Einstellung der modernen Filmemacher zu ihrem Medium ist in Ulrich Gregors Buch allerdings nur bruchstückhaft zu erkennen. Gregors und seiner Interviewer Fragestellung war zu unentschieden. Das Interessanteste muß der Interessierte selbst hineinlesen.

Schloendorff

Ulrich Gregor

(Herausgeber):

»Wie sie filmen«

Sigbert Mohn

Verlag

Gütersloh

360 Seiten

19,80 Mark

Regisseur Wolf

Ein Film entsteht ...

Regisseur Fellini

weil Dinge drängen

Volker Schloendorff
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