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MEDIKAMENTE Bestrafte Sucht

»Altimol«, ein Mittel zur Alkoholentwöhnung, mußte vom Markt genommen werden: Das Präparat wird verdächtigt, zehn Todesfälle verursacht zu haben. *
aus DER SPIEGEL 27/1984

Seit ihrer Gründung vor 157 Jahren paßt auf die Darmstädter Arzneimittelfirma Merck das schmückende Beiwort »ehrwürdig«. Zwar war das 8000-Mitarbeiter-Unternehmen in Südhessen im letzten Jahrzehnt mit seiner Forschung nicht besonders erfolgreich, kein bedeutendes Medikament wurde hervorgebracht. Doch Merck in Darmstadt war auch an keinem der großen Arzneimittelskandale beteiligt.

Nun haben die Darmstädter, wie es in den Korridoren der Firmenleitung heißt, auch »e greßere Sach''« am Hals. Anfang letzten Monats nahm Merck wegen des Verdachts schwerer Nebenwirkungen das Alkoholentwöhnungsmittel »Altimol« vom Markt - andernfalls hätte das Bundesgesundheitsamt (BGA) den Vertrieb des Medikaments verboten.

Lange hatte Merck diese Entscheidung hinausgeschoben. Noch am Himmelfahrtstag Ende Mai gab es, von morgens neun bis abends um acht, eine Krisensitzung der Konzernleitung - auf der Suche nach Argumenten gegen die Bedenken des BGA. Bis zu diesem Zeitpunkt waren bereits acht Todesfälle gemeldet worden, die möglicherweise im Zusammenhang mit der Verabreichung von »Altimol« stehen. Inzwischen ist die Zahl der Todesfälle auf zehn gestiegen.

Außerdem gibt es Meldungen über 70 Fälle von zum Teil schweren Unverträglichkeiten im Bereich von Leber und Blutbildung, die mit dem Merck-Mittel in Verbindung gebracht werden - und das, obwohl »Altimol« seit seiner Markteinführung nur an etwa 8000 bis 10 000 Alkoholkranke verabreicht wurde.

Kritiker der Pharma-Industrie erheben auch in diesem Fall den schweren Vorwurf, Schädigungen und Todesfälle hätten vermieden oder eingegrenzt werden können, wenn das Präparat vor seiner Zulassung sorgfältiger geprüft und nach Bekanntwerden der Verdachtsmomente früher zurückgezogen worden wäre. »Kaum sind die Scherben eines Arzneimittelunfalls weggeräumt, da ereignet sich ein neuer«, kommentierte das Pharma-unabhängige Berliner »Arznei-Telegramm« mit Blick auf den letzten Fall dieser Art (SPIEGEL 15/1984).

Auf einer Pressekonferenz am Donnerstag letzter Woche nahm die Herstellerfirma zu den Vorwürfen Stellung. Die Merck-Geschäftsleitung bescheinigte sich, »daß wir verantwortungsvoll gehandelt haben«; zu keinem früheren Zeitpunkt hätten die Verdachtsmomente ausgereicht, das Mittel vom Markt zu nehmen. Zudem stünden die gemeldeten Todesfälle zwar »in einem zeitlichen Zusammenhang« mit der »Altimol«-Einnahme, ein »Kausalzusammenhang« sei jedoch nicht ermittelt worden - mit dieser Volte lassen sich etwaige Schadensersatzforderungen von vornherein abblocken.

Zu ihrem Alkoholentwöhnungsmittel »Altimol« war die Firma Merck nicht durch zielstrebige Suche im Labor gelangt, sondern durch einen Umkehrtrick, der in der Pharmabranche schon öfter zu geschäftlichem Erfolg führte: Die unerwünschte Nebenwirkung eines Medikaments wird zur erwünschten Hauptwirkung erklärt - und damit wird das Mittel marktfähig. _(Beispiel: Die zufällig entdeckte ) _(blutzuckersenkende Wirkung der gegen ) _(Bakterien gerichteten Sulfonamide führte ) _(zur Entwicklung der oralen ) _(Antidiabetika. Jahresumsatz in der ) _(Bundesrepublik: 500 Millionen Mark. )

Als Tropenmedikament, das Fellachen und Reisbauern von Amöben und Trichomonaden befreien sollte, hatte Merck Ende der 60er Jahre den »Altimol«-Wirkstoff Nitrefazol ursprünglich einsetzen wollen. Aber die klinische Erprobung in Ägypten und Indien mußte abrupt abgebrochen werden: Einige der Probanden hatten, froh über ihre Genesung, Alkohol zu sich genommen und klagten daraufhin über heftige Unverträglichkeitsreaktionen, verbunden mit Vernichtungsgefühlen - aus war es mit dem Tropenmedikament.

Erst Ende der 70er Jahre wurden die Merck-Pharmazeuten wieder auf den Wirkstoff Nitrefazol aufmerksam. Unter der Projektbezeichnug »EMD 15''700« ging das Mittel erneut in die pharmakologische und klinische Erprobung - nunmehr zur Trinkerentwöhnung, als »Alkohol-Aversivum«.

»Altimol«, das Tropenmittel im neuen Gewande, wirkt auf Alkoholsüchtige nach dem Bestrafungsprinzip: Wer das Mittel einnimmt und trotzdem Alkohol trinkt (Fachsprache: »Trinkereignis"), leidet alsbald unter heftigen Unverträglichkeitsreaktionen. »Altimol« hemmt massiv und langanhaltend ein alkoholabbauendes Enzym in der Leber. Die dadurch verursachte Übersättigung des Blutes mit Acetaldehyd führt zu Blutdruckabfall, Pulsrasen, Herzklopfen, Übelkeit, Brechreiz, Erbrechen, einer _(SPIEGEL-Titel 36/1977. )

heftigen Rötung der Kopfhaut, des Körpers und der Gliedmaßen, ferner zu Kopfschmerzen, Wärmegefühl, einem Kribbeln an den Handinnenflächen und Fußsohlen, zu Schweißausbrüchen, Blässe, Atemnot, Müdigkeit und Ekel vor Alkohol. Die Fachleute sprechen vom Acetaldehyd-Syndrom.

Merck ließ Psychiater der Berner Universitätsklinik Waldau und der Psychiatrischen Klinik Münsingen per Video den Ablauf solcher Vergiftungserscheinungen beim Zusammentreffen von »Altimol« und Alkohol filmen. In einem Fall wurde eine »drastische Senkung des Blutdrucks auf Werte von 60/35« beschrieben - Blutdruckwerte, die auf Dauer mit dem Leben nicht vereinbar sind.

Auf solche »im Einzelfall nicht auszuschließenden« Herz-Kreislauf-Reaktionen hatten die Merck-Hersteller im »Altimol«-Beipackzettel hingewiesen. Im übrigen aber bescheinigten sie dem Mittel eine »insgesamt gute Verträglichkeit«. Im September 1982 erklärte das Bundesgesundheitsamt im offiziellen Zulassungsverfahren das Medikament für unbedenklich und wirksam. Merck entschied sich im April 1983 zur »Voreinführung« von »Altimol«. Das Präparat wurde einer »begrenzten Zahl« von 550 Ärzten ausgehändigt.

Die ausgesuchten Mediziner sollten zugleich ein neues Behandlungskonzept erproben: Die »Altimol«-Kapseln sollten jeweils unter Aufsicht des Arztes geschluckt werden, und zwar in der Regel am Freitag, dem für Alkoholrückfällige besonders gefährlichen Zahltag. Die abschreckende Wirkung von »Altimol« sollte mindestens eine Woche anhalten.

Am 2. Januar 1984 brachten die Merck-Leute das Mittel endgültig auf den Markt. Auf zahlreichen Fortbildungstagungen für Ärzte propagierten sie die Weltneuheit. Kleiner Schönheitsfehler am Rande: Die schwedische Arzneimittelbehörde hatte dem Mittel wegen mangelhafter Erprobung die Zulassung versagt. In den USA versuchten es die Merck-Leute gar nicht erst, dort sind die Zulassungskriterien noch härter.

Schon in der Phase der »Voreinführung«, also bis Ende letzten Jahres, waren bei Merck, wie die Firma einräumt, Nebenwirkungen des Mittels gemeldet worden, aber lediglich solche, die sich auch »als Folgen von alkoholtoxischen Organschäden, Rückfälle in den Alkoholismus oder auf andere Begleiterkrankungen deuten« ließen. Im Klartext: Nicht das Mittel, sondern der Suff war nach Meinung der Merck-Pharmazeuten schuld an den Begleiterscheinungen.

Diese Überzeugung schimmert in den Äußerungen der Merck-Manager noch immer durch. Jedenfalls aber, so hieß es letzte Woche auf der Pressekonferenz, hätten »eingehende toxikologische Untersuchungen an mehreren Tierarten ... erwiesen, daß das Medikament selbst die Leberfunktion nicht beeinträchtigt«. Die klinische Erprobung am Menschen habe »gleichlautende Resultate« ergeben.

Bald nach der Markteinführung, im Januar dieses Jahres, trafen in Darmstadt neue Nachrichten über »einige unerwünschte Begleiterscheinungen« der »Altimol«-Therapie ein, vor allem über drastische Erhöhungen der Leberenzymwerte.

Schon viel früher jedoch, so meint der Berliner Arzneimittelkritiker Ulrich Moebius, hätte Merck dieses Gefahrenpotential entdecken müssen. Die gezielte Überprüfung der Leberverträglichkeit sei nur an 31 Patienten über einen Zeitraum von vier Wochen vorgenommen worden, eine »nach Art und Umfang unzulängliche Studie« (Moebius): Bei einem so kleinen Prüfkollektiv würden sich Nebenwirkungen nur zeigen, wenn sie etwa jeden zehnten, der das Mittel einnimmt, treffen. Nebenwirkungen, die beispielsweise nur jeden hundertsten betreffen, blieben verborgen.

Als sich zwischen Januar und April die Nebenwirkungs-Nachrichten häuften und erste Todesfälle gemeldet wurden, entschloß sich Merck, eine Experten-Runde einzuberufen. Firmenvertreter und Professoren trafen sich am 5. Mai im Steigenberger Airporthotel in Frankfurt und diskutierten die Verdachtsmomente. Ergebnis: Da »die Häufigkeit (der schädlichen Nebenwirkungen) bisher noch unklar ist, besteht kein Anlaß, das Präparat vom Markt zurückzuziehen«.

Eine von den Experten empfohlene Warnung wurde am 25. Mai ins »Deutsche Ärzteblatt« eingerückt: »In sehr seltenen Fällen« seien »erhebliche Anstiege der Leberenzymwerte« beobachtet worden - von Todesfällen nach »Altimol«-Einnahme kein Wort.

Merck ließ in den Lagerbeständen die Beipackzettel ändern. Doch in den vertraulichen Informationen für ihre Ärztebesucher ("Nur für Ihren persönlichen Gebrauch") blieben die Merck-Strategen weiter auf hartem Verkaufskurs: »Wir sehen aufgrund der derzeitigen Situation keine Veranlassung, die Bewerbungsstrategie für ''Altimol'' in irgendeiner Weise zu ändern.«

Am 15. Mai, zehn Tage nach dem Expertengespräch in Frankfurt, wurde der Darmstädter Firma ein weiterer Todesfall gemeldet: Die als »Fall 7« von den Experten diskutierte Patientin, eine 32jährige Frau aus Lüneburg, war im Oststadtkrankenhaus Hannover im Leberkoma verstorben. Autopsiebefund des Internisten Professor Gorig Brunner: »Massiver Leberzellzerfall, wahrscheinlich arzneimittelbedingt bei vorbestehendem Alkoholschaden.«

Während der Darmstädter Krisensitzung am Himmelfahrtstag (31. Mai) hagelte es dann weitere Nebenwirkungsmeldungen, zwölf kamen allein an diesem Tag. Tags darauf entschloß sich Merck zum Rückzug vom Markt. Knapp zwei Wochen später, am 13. Juni, starb in Heidelberg das mutmaßlich letzte, das zehnte Opfer von »Altimol«.

Von einer »sehr seltenen« Überempfindlichkeitsreaktion auf »Altimol« mögen nun auch die Merck-Manager nicht mehr sprechen: Ein Toter auf etwa 800 mit »Altimol« behandelte Alkoholiker - das wäre eine Nebenwirkungsrate, die bislang von keinem anderen Medikament erreicht wurde.

Beispiel: Die zufällig entdeckte blutzuckersenkende Wirkung dergegen Bakterien gerichteten Sulfonamide führte zur Entwicklung deroralen Antidiabetika. Jahresumsatz in der Bundesrepublik: 500Millionen Mark.SPIEGEL-Titel 36/1977.

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