Zur Ausgabe
Artikel 33 / 75

WILDER WESTEN Betrug + Reue + Schwur

aus DER SPIEGEL 30/1963

In einer Kleinstadt des Wilden Westens treffen vier Reiter ein. Ihr Anführer gibt sich als Beauftragter der Polizei aus. Er ist ein wilder Bursche namens McCarthy.

Systematisch hetzt er die Einwohner gegen einen jungen Mann auf, der angeblich ein Verbrechen begangen hat. Seine demagogischen Künste bleiben nicht ohne Wirkung: Die aufgeputschten Westler verwerfen alle Beweise, die das McCarthy-Opfer für seine Unschuld beibringt.

Doch McCarthy endet schrecklich. In einer tollen Laune schießt er auf ein Modell der amerikanischen Freiheitsglocke mit dem eingravierten Datum der Unabhängigkeitserklärung von 1776. Die Kugel prallt ab und trifft ihn selbst.

»Wenn man von der Primitivität dieses letzten Symbols absieht, ist 'Silver Lode' (1954) - deutscher Titel: 'Stadt der Verdammten' - einer der aufrichtigsten und leidenschaftlichsten Anti-McCarthy -Filme, die Hollywood hervorgebracht hat«, schreibt der französische Autor und Western-Spezialist Jean-Louis Rieupeyrout in seinem Buch »Der Western"**.

Obwohl sich der Verfasser - wie der Verlag der deutschen Ausgabe betont - vorgenommen hat, »zum erstenmal alles über den Western, die meistkonsumierte Filmware der Welt«, zu erzählen, interessiert ihn offenbar ein Gesichtspunkt ganz besonders: die Brauchbarkeit des Wildwestfilms als Propaganda -Instrument.

Rieupeyrout schildert nicht nur, daß der Western in den fünfziger Jahren für linksintellektuelle Filmemacher wie Allan Dwan und Nicholas Ray als Vehikel ihres Grolls gegen den Kommunistenschreck McCarthy gedient habe. Er vermutet auch, daß Hollywood damals in Filmen wie »Bravados« und »Lockende Versuchung«, in denen Western-Helden nur noch mit ungewöhnlichen religiösen Skrupeln zur Waffe greifen, Massenpredigern wie Billv Graham Schützenhilfe gab.

»Dies alles«, schränkt der Wildwest -Forscher ein, »geht natürlich immer nur so weit, wie man es dem Publikum zumuten kann, das ja sehr wohl weiß, daß Gewaltanwendung und ein gewaltsamer Kreuzzug, wenn sie nur im Reinigungsbad des amerikanischen Idealismus ihre Weihe empfangen haben, durchaus nicht verwerflich sind.«

In ein Reinigungsbad wollen die Herausgeber des Buches offenbar auch verstaubte deutsche Ansichten vom Wildwestfilm stecken. »Keine andere Filmgattung wird hierzulande von Gebildeten, von Filmverleihern und Kritik bis heute derart hartnäckig ins Saaldunkel bestimmter Action-Kinos und Nachtvorstellungen verdammt«, heißt es im Vorwort.

Der Herausgeber der hochgestochenen Cineasten-Fibel »Filmkritik«, Enno Patalas, hat ähnliche Beobachtungen gemacht. »Einer der schönsten Filme des vergangenen Jahres«, klagte er unlängst, sei »nur kurz in ein paar Bumskinos« erschienen, »von der Kritik übersehen oder verkannt«. Er meinte einen Wildwestfilm mit dem Titel »Sacramento«.

Obgleich die Werbetexter der amerikanischen Verleihfirma Metro-Goldwyn -Mayer eine reißerische Schlagzeile ("Ein Film, dessen Drehbuch mit dem Colt geschrieben wurde!") ersonnen hatten, verschwand das von dem amerikanischen Jungregisseur Sam Peckinpah inszenierte Lichtspiel, das in New York, London und Paris wochenlang in renommierten Kinohäusern lief, alsbald in den Vorstadtkinos. Das Hamburger Wochenblatt »Die Zeit« untersuchte über vier Spalten, »warum Sam Peckinpahs 'Sacramento' unterging«, und fand: »Keine Ahnung von Kunst und wenig vom Geschäft.«

Tatsächlich scheuen große deutsche Premierenhäuser nicht selten davor zurück, Westerns aufzuführen, obwohl längst feststeht, daß die Wildwestfilmbranche nicht nur zahllose Kassenfüller, sondern auch glanzvolle Beiträge zur Filmgeschichte geliefert hat. Es gibt kaum einen US-Regisseur von Rang, der nicht wenigstens einen Western inszeniert hat.

Selbst die Immigranten Fritz Lang und René Clair und auch der exaltierte Schauspieler Marlon Brando versuchten sich als Wildwest-Regisseure. Und außer den Standard-Stars des Wilden Westens - etwa: Gary Cooper, John Wayne, Henry Fonda - spielten auch Marilyn Monroe ("Fluß ohne Wiederkehr"), Maria Schell ("Der Galgenbaum"), Audrey Hepburn ("Denen man nicht vergibt") und Marlene Dietrich ("Der große Bluff") in Westerns mit.

Der erste Cowboy war freilich schon auf der Leinwand zu sehen, als Marlenes Beine noch in Kinderstrümpfen steckten. Er war der Schauspieler Max Anderson, der unter dem Namen »Broncho Billy« berühmt wurde, vor dem Ersten Weltkrieg in sieben Jahren 376 Filme drehte und stets nach dem Motto verfuhr: »Man wechselt nicht das Thema, man wechselt das Pferd.«

Denn das Grundthema des Westerns hatte der Regisseur Edwin S. Porter schon 1903 in »The Great Train Robbery« festgelegt. »Time« umschrieb den Archetypus so: »Banditen überfallen Reisende, fordern Lösegelder und stecken Ernten in Brand. Auf ihren Spuren jagen mit schnellen, unermüdlichen Pferden der Sheriff und seine Männer.«

Später waren es Banken und Postkutschen, die auf der Leinwand überfallen wurden, und »niemals war das Einvernehmen zwischen Publikum und Kino herzlicher« (Rieupeyrout).

Als der Tonfilm kam, fand der Regisseur King Vidor zwar, das einfache Handlungsschema des Stummfilms müsse durch den Dialog vertieft und kompliziert werden. Eine spürbare Erneuerung des Westerns kam aber erst während der fünfziger Jahre mit Filmen wie »12 Uhr mittags« (Hauptdarsteller: Grace Kelly, Gary Cooper) zustande. Rieupeyrout: »Ein großes fruchtbares Western-Jahrzehnt.«

Nun unterschieden die Kritiker zwischen dem »Adult Western« (dem Western für Erwachsene, der in Deutschland nur unzulänglich mit »Edel-Western« umschrieben wird) und dem Serien -Western, den Rieupeyrout als »Spiegelei der Filmproduktion« bezeichnet. Die an Infantilismus grenzende Anspruchslosigkeit des Serien-Westerns drückt sich allein schon in seiner Fertigung aus: Ein bis zwei Stars und zwanzig bis dreißig Kleindarsteller bewegen sich sechs bis zwölf Tage in Standard-Dekorationen. Die stereotypen Knallereien und Verfolgungen werden einem Spezialarchiv entnommen und später eingeschnitten.

Und so, beschreibt Rieupeyrout, »ist der Held des Serien-Westerns": »Er raucht nicht, er trinkt nicht, und als würdiger Nachfahre von Rio Jim und Tom Mix zieht er das Pferd allemal der Frau vor.«

Tom Mix hatte 1910 begonnen, durch eine schier endlose Serie von »Horse operas"* zu galoppieren. Als Rio Jim ritt und schoß der Darsteller William

Surrey Hart der von 1920 bis 1922 für neun Filme Gagen in Höhe von 2,2 Millionen Dollar kassierte und stets nach der Formel filmte: »Betrug + Reue + Schwur + Pferd + Erlosung = ein Film der Serie Rio Jim.«

Das Drehbuch des modernen Serien -Westerns verlange vom Zuschauer ebenfalls »keine besonderegeistige Mitarbeit«, schreibt Autor Rieupeyrout. »Wird der Dialog versehentlich einmal zu ausführlich, so begräbt eine Flut von schriftlichen Beschwerden den Schreibtisch des Produzenten. Man verlangt mehr Handlung, weniger Worte und vor allem kein Liebesgeplänkel.«

Der traditionelle, naive Western gibt sich auch schlicht in seinen propagandistischen Bemühungen, die Rieupeyrout fortwährend aufzuspüren trachtet:

- Der Militär-Western der Filmpioniere David W. Griffith und Thomas H. Ince aus den Jahren 1914 bis 1916 etwa - meist im Bürgerkrieg oder in der Zeit der Indianerkämpfe angesiedelt - schürt die Kriegsbegeisterung: »Die ganze Welt steht unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges, und Heroismus steht hoch im Kurs. Kann man ein Volk in den Kampf schicken, ohne ihm vorher seine physische und moralische Unschlagbarkeit suggeriert zu haben?«

- Der Verkehrs-Western erzählt die Geschichten von Eisenbahn-, Postkutschen- und Nachrichtenverbindungen und kündet, wie »Union Pacific«, von »einer titanischen Aufgabe, die die Nation ... erfüllt, obwohl sie zur gleichen Zeit in einem Bürgerkrieg zerrissen ist - also fehlt dieser Nation doch nicht der Sinn für die Einheit!«

- Der Western mit den Erzählungen aus der Kolonisation der Oststaaten und dem Unabhängigkeitskrieg ("Pre -Western") verherrlicht den Modell -Amerikaner, während der Unwert der Bösewichte schon dadurch signalisiert ist, daß sie Ausländer sind.

»Dieser nationalistische und patriotische Aspekt des Pre-Westerns wird seit einiger Zeit auch in anderen Westerns für Propagandazwecke mobilisiert«, notiert Rieupeyrout. »Der 'Erbfeind', der sich der Einigung und Ausbreitung der nordamerikanischen Staaten entgegensetzt, ist russischer Herkunft.« Beispiel: »Kalifornien in Flammen« (1952).

Propaganda anderer Art wittert der Autor in dem Film »Geächtet« (mit Jane Russell), der ironisch die Erotik hervorkehrt und damit gegen die sittenstrengen und einflußreichen amerikanischen Frauenverbände zielt. Regisseur Howard Hughes widmete sich dabei »einer grundsätzlichen Betrachtung der Vorrechte der zwei im Westen unentbehrlichen Tiere: der Frau und des Pferdes«, und kam, nach Ansicht des 1958 verstorbenen Filmologen André Bazin, zu dem Schluß: »Die beste Frau wiegt ein gutes Pferd nicht auf.« Der Film hatte, wegen Jane Russells Dekollete und einer Bettszene, jahrelang Zensurschwierigkeiten.

Freilich stellen solche polemischen Züge im Grunde nur Auswüchse des »Adult Western« dar, der seine vorläufig extremste Form im »Beatnik Western« gefunden hat: In einem Film wie »Einer muß dran glauben« wird der Wildwest -Held »Billy the Kid« wie eine zerquälte Figur des Beat-Autors Jack Kerouac dargestellt, und das exzentrische Spiel des im New Yorker »Actor's Studio« geschulten Titeldarstellers Paul Newman unterstreicht noch diesen Modernismus.

Mitunter heben sich die Adult Western von den Primitiv-Western durch polemische Dialoge oder auch durch politisches Engagement ab. Einige von ihnen revidierten sogar das amerikanische Geschichtsbild. Rieupeyrout: »Äußerste historische Genauigkeit in einem Western bedingt fast immer eine Anklage der Irrtümer, die sich in den wirren Jahren der amerikanischen Geschichtewahrlich häuften; sie ist infolgedessen selten in Werken, die bestimmt sind, das Heldenlied der Nation zu singen.«

In der Indianerfrage ließ Hollywood sich freilich von der offiziellen Washingtoner Politik leiten - und machte alle Schwankungen dieser Politik getreulich mit. Infolgedessen spiegelt

- der frühe Western das berichtigte Wort des Generals Sheridan, eines Veteranen der Indianerkämpfe: »Der einzig gute Indianer ist der tote Indianer«;

- der neuere Western Gesetze, die den Indianern die gleichen Rechte wie den anderen Amerikanern einräumen und ihre Würde als Volk und Rasse von Staats wegen schützen.

Die Geschichte dieser Wandlung läßt sich am deutlichsten in den zahlreichen Verfilmungen von »Custers letzte Schlacht« ablesen, eines Massakers am Fluß Little Big Horn im Jahre 1876, bei dem die Kerntruppe des eitlen, ehrgeizigen und unbesonnenen Generals George A. Custer von mehreren Tausend Sioux unter dem Häuptling Sitting Bull völlig aufgerieben wurde.

Von der ersten Leinwandfassung der Schlacht im Jahre 1912 bis zu dem von Raoul Walsh inszenierten Errol-Flynn -Film »Sein letztes Kommando« (1941) erschien Custer dabei stets als »unglücklicher Held, der in heroischer Schlacht den satanischen Rothäuten unterliegt« und quasi heiliggesprochen werden kann.

Als der Regisseur John Ford den Stoff 1947 wieder aufgriff, geschah etwas Ungewöhnliches: Er ließ die Indianer zu Wort kommen, was man bis dahin sorgsam vermieden hatte, und in dem Maße, in dem sie ihren Haß gegen die Weißen motivierten, schwand beim Zuschauer die Sympathie für den Helden Custer. Das kam selbst Ford so kühn vor, daß er seinen Film verschlüsselte: Obwohl er ein fast authentisches Bild des Treffens malte, gab er den Figuren des Films und

den Schauplätzen andere Namen: Einer der wenigen, die das Gemetzel überlebten (verkörpert von John Wayne), mußte versuchen, das Verhalten des Obersten Thursday (alias Custer, gespielt von Henry Fonda) zu rechtfertigen.

Acht Jahre später aber erzählte der Regisseur Sidney Salkow die Geschichte von »Custer's last stand« in seinem Film »Sitting Bull« ("Das letzte Gefecht") so objektiv, »daß der Film nicht nur als Anklage gegen den hochmütigen Custer, sondern auch gegen die Washingtoner Regierung und ihre korrupte, fehlgeleitete Indianerpolitik wirkt«.

Wildwest-Autor Frank Gruber brachte die Entwicklung auf eine einfache Formel: »Früher waren die Indianer Bösewichte - heute sind es die Weißen.«

So sind zwar die Indianer rehabilitiert, aber der Hang des Westerns zur Propaganda ist nach Ansicht Rieupeyrouts unvermindert stark. Über den 1959 entstandenen (und in der Bundesrepublik mit dem Prädikat »Besonders Wertvoll« ausgezeichneten) Western »Alamo«, dessen Produzent, Regisseur und Hauptdarsteller der ehemalige Mc-Carthy-Parteigänger John Wayne ist, urteilt der Autor so: Wayne spiele den Davy Crockett »als einen nationalistischen Superpatrioten, der das Gedankengut der (rechtsradikalen) John-Birch-Society verkündet«.

** Jean-Louis Rieupeyrout: »Der Western«.

Carl Schünemann Verlag, Bremen; 232 Seiten; 14,80 Mark.

* »Horse opera« = Pferde-Oper; amerikanische Bezeichnung für Serien-western.

Western-Star Grace Kelly*

Die beste Frau

Western-Star Audrey Hepburn*

... ist schlechter ...

Western-Star Marilyn Monroe*

... als ein gutes Pferd

Western-Star Tom Mix

Der Held raucht nicht und trinkt nicht

Western-Star Marlene Dietrich in »Der große Bluff": Liebesgeplänkel unerwünscht Western-Star Wayne in »Alamo«

Rechtsradikale Propaganda verbreitet

* In den Filmen (v. l. n. r.) »12 Uhr mittags« (mit Gary Cooper), »Denen man nicht vergibt«, »Fluß ohne Wiederkehr« (mit Rory Calhoun

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 33 / 75
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten