DDR-GASTRONOMIE Bienen vom Grill
Die Köpenicker Linsensuppe mit Würstchen schmeckte vorzüglich; das Eisbein auf Apfel-Zwiebel-Salat mit Meerrettich, extra scharf, war ein Gedicht. Erst der Nachtisch trieb dem Gourmet die Tränen in die Augen: Die verlockenden Zuckerkugeln auf dem Ananasparfait waren steinhart, »es sind Schrotkugeln«.
Trotz der Zahnbrecher hält der West-Berliner Speise-Tester Wilhelm R. Frieling das üppige Mahl für eines der besten, das die DDR-Gastronomie zu bieten hat.
Mit sechs von zehn möglichen Punkten bedachte er die Küche der Ausflugsgaststätte »Müggelsee-Perle« bei Berlin-Köpenick. »Küche und Service«, vermerkte er im Testbericht, »stehen weit über dem Landesdurchschnitt.«
Erst hinterher gestand der Wirt, welche Genüsse er dem Gourmet aus dem Westen erspart hatte. Eigentlich wollte er ihm als Beweis für die Raffinesse seiner Küche geröstete Bienen auf Toast, »eine Spezialität aus Japan«, servieren.
Aber das wäre wohl zu geschmäcklerisch gewesen. Schließlich ist die »Müggelsee-Perle« ein staatseigener Restaurationsbetrieb zur Verköstigung breiter Volksschichten - im Sommer rund 4500 Mahlzeiten täglich - und nicht ein Schlemmer-Tempel westlicher Dekadenz.
Frieling ist nicht sicher, ob es dem Müggelsee-Chef Gerhard Kalweit mit den gerösteten Bienen wirklich ernst war. Zutrauen würde er es ihm. Kalweits Betrieb und sein Chefkoch Herbert Dießel jedenfalls sind das Beste, was er den DDR-Reisenden an ostdeutscher Küche empfehlen kann.
Probe-Esser Frieling hat 55 ostdeutsche Restaurants, Gasthöfe und Hotels getestet. Das Ergebnis, im ersten gesamtdeutschen Speiseführer des Hamburger S.271 Gourmet-Journals »VIF«
( VIF-Reiseführer 1983, 1500 Empfehlungen ) ( für Restaurants, Gasthöfe und Hotels in ) ( Deutschland; Lütze Verlag, Hamburg; 468 ) ( Seiten, 28 Mark. )
nachzulesen, bestätigt vor allem ein solides Vor-Urteil:
Einen schlechteren Ruf als die britische Gastronomie hat in Europa nur noch die deutsch-demokratische. Lange Wartezeiten, Placierungsvorschriften, rüde Bedienung, dürftiges Speiseangebot, »Jagdessen«, bei denen dem Gast, kaum legt er mal die Gabel aus der Hand, der Teller weggezerrt wird - all dies gehört zum DDR-Alltag.
Aber es gibt auch die kleinen Kostbarkeiten, mit Stoffservietten, Edelstahlstatt Aluminium-Bestecken, mit gepflegter Küche und aufmerksamer Bedienung. Freilich, man muß sie kennen oder jemanden kennen, der sie kennt. Zufallsentdeckungen sind rar.
Der »Äberlausitzer Töpp''l« (sechs Punkte) an der Straße der Befreiung in Dresden ist berühmt für sein Schwarzbier aus der Tradtionsbrauerei Löbau. Einzige Einschränkung: Wenn das Originalbier mal aus ist, wird es ohne vorherige Warnung durch eingefärbtes Helles ersetzt.
Oder die Alchimisten-Klause in Halle (fünf Punkte), wo Mama Frieda die Kelle schwingt. Ihr »Filetsteak a la Meyer« wird weitherum gerühmt. Eine Spezialität ist der Alchimisten-Trunk, eine Mixtur aus Curacao und Rotkäppchen-Sekt. Vor dem Genuß von Wein - was Wunder, in einer Alchimistenklause - wird gewarnt: »Diese sind stark verschnitten ... kaum trinkbar und zudem viel zu teuer« (Frieling).
Verblassender Ruhm genießt das Ermeler Haus am Märkischen Ufer in Berlin-Ost. Früher pflegten hier westliche Diplomaten ihre Empfänge auszurichten, stolz darauf, den Gästen einen Hauch von volkseigener HO-Atmosphäre zu vermitteln. Die Qualität der Küche gilt heute nur noch als durchschnittlich: vier Punkte.
Gleiches gilt für das Leipziger Traditionshaus »Auerbachs Keller«. Zwar gibt es hier als Huldigung an den Bildungsbürger Mephisto-Fleisch, Teufelstoast und Studententeller - aber oft nur lauwarm: Die Küche ist im fünften Stock, Warmhalteplatten kennt man nicht. Dafür ist die Bedienung »zuvorkommend und flexibel«, mit sächsischer »Vigilanz«, und vom Leipziger Allerlei erhält man - ungewöhnlich in der DDR - Nachschlag.
Ein Jahr lang hat der Journalist und Speisetester Frieling recherchiert, Berichte von fachkundigen Kollegen zusammengetragen, mit Genehmigung der zuständigen Behörden überprüft und sich von DDR-Bürgern Tips geben lassen.
Feinschmecker-Journale oder Speiseführer gibt es in der DDR nicht. Die Gaststätten sind in fünf Kategorien gegliedert. Über 70 Prozent der Restaurants S.272 zählen zu den niedrigsten Preisklassen I und II, in denen es komplette Menüs von 2,50 Mark an gibt.
Das Ministerium für Handel und Versorgung, dem die 26 000 Gastbetriebe zugeordnet sind, führte dem Gourmet-Journalisten auf zwei Testreisen voller Stolz die Errungenschaften sozialistischer Gastlichkeit vor, zumeist Schnellgaststätten und Interhotelbetriebe. Das Servier- und Küchenpersonal war schon Wochen vorher instruiert worden.
In Halle klagte eine Küchenhilfe dem West-Tester, tagelang habe sie vor seinem Besuch die Küche blank scheuern müssen. Vor der Wredenhagener Clubgaststätte wurde er von fünf nervösen Herren in Schwarz erwartet; sie umwieselten ihn bei Tisch wie einen Staatsgast. Dennoch gelang es Frieling gelegentlich, unangemeldet zu Küchenchefs vorzudringen, in die Töpfe zu gucken und zu probieren.
Größtes Problem für die meisten Gastronomen, ob privat oder staatlich, ist die Versorgung mit frischer Ware. Die »Müggelsee-Perle« kann nur deshalb frische Pfifferlinge anbieten, weil der Gaststättenleiter in der Saison eigene Pilzkuriere in den Süden der Republik schickt.
Der mangelhafte Nachschub führt zwangsläufig dazu, daß vieles vorgefertigt wird oder aus der Dose kommt. »Die Köche wetteifern miteinander«, lernte Frieling, »wer die Konserven mit den exotischsten Aufschriften in der Speisekammer stehen hat.« Auf der Speisekarte spiegelt sich die Sehnsucht nach der großen weiten Welt.
Schnell wird ein ordinärer Wurstsalat zur »Lyoner Art« stilisiert, eine geröstete Scheibe Brot mit holziger Dosen-Ananas S.273 zum »Toast Hawaii«. Dem westdeutschen Testesser sind nur drei DDR-Köche bekannt, die im Ausland gelernt haben.
Am besten sind die Mahlzeiten dort, wo Zutaten aus der Region verwendet werden: Hallenser Fettbemmchen, Lausitzer Hochrippe, Thüringer Klöße. Allerdings liefert solche Hausmannskost reichliche Kalorien; Fettleibigkeit ist für den DDR-Gesundheitsdienst ein noch gewichtigeres Problem als in vergleichbaren anderen Staaten. Pro Kopf und Jahr werden über 140 Kilogramm an Kartoffeln verzehrt (Bundesrepublik: 91 Kilogramm). Seit einiger Zeit experimentieren die staatlichen Speiseplaner daher mit einer Art Nouvelle Cuisine auf sozialistisch.
Auch die Preisgestaltung will das Ministerium für Handel und Versorgung demnächst ändern. Dank der stark subventionierten Preise bietet die DDR-Gastronomie auch in guten Häusern vollständige Menüs von fünf Mark an aufwärts. Keine Hausfrau kann damit konkurrieren. In Restaurants der oberen Mittelklasse zahlte Frieling für eine Schlachtplatte 5,35 Mark, für ein Rumpsteak 7,80 Mark und für ein »hervorragendes« Havelzanderfilet mit Senf-Dillsauce 5,80 Mark.
Die ostdeutschen Funktionäre freilich waren trotz der lobenden Hinweise auf das Preisniveau sozialistischer Eßkultur von der Arbeit des Gast-Essers Frieling wenig erbaut. Das Ministerium für Handel und Versorgung störte sich an den kritischen Zwischentönen und nannte das Werk eine »Unverschämtheit«. Vom Verlag in die DDR geschickte Belegexemplare wurden nicht an die Adressaten ausgeliefert.
S.271VIF-Reiseführer 1983, 1500 Empfehlungen für Restaurants, Gasthöfeund Hotels in Deutschland; Lütze Verlag, Hamburg; 468 Seiten, 28Mark.*