KUNST / BIENNALE NÜRNBERG Bierfilz im Raum
Der Puls des internationalen Kunstbetriebs schlägt in Zweijahresintervallen. In diesem Rhythmus ziehen Künstler, Händler und Betrachter zu den Schau-Plätzen der Biennale von Venedig und Sao Paulo, zur Jugend-Biennale nach Paris und zur Graphik-Biennale nach Ljubljana.
Nun nimmt auch Deutschland am eingeübten Turnus teil: Bis Anfang August wird in Nürnberg die, trotz Mängeln imposante, erste Ausstellung dieser neuen Biennale-Serie gezeigt. Rund 700 Werke von 138 Künstlern aus 22 Ländern bringen für diese Zeit die große Kunstwelt in Dürers Stadt.
Von anderen, schon etablierten Biennalen unterscheidet sich die Nürnberger Veranstaltung »dadurch, daß sie ein Thema hat«, so ihr Erfinder und Manager, der örtliche Kunsthallenchef Dietrich Mahlow. Die Wechselschau soll jeweils eine andere aktuelle Richtung darbieten; diesmal: »Konstruktive Kunst: Elemente und Prinzipien«.
Konstruktivismus, seit reichlich 50 Jahren als vager Terminus im Umlauf, wird somit erstmals als die methodische Verwendung serieller Bild- und Bau-Elemente begrifflich eingegrenzt -- freilich leger genug. Entsprechend gibt Nürnbergs Start-Biennale, die in Kunsthalle und Künstlerhaus, labyrinthischen Gebäuden voll versteckter Seitengelasse und Hintertreppen, sowie in einem Rathaussaal placiert ist, ein reiches, bisweilen auch wirres Bild.
Denn der weitherzig definierte Nürnberger Konstruktivismus umfaßt geometrisch aufgeteilte Gemälde ebenso wie spiralige Metallskulpturen oder bewegte Lichtspiel-Apparate. Im Raum der Jugoslawen führt der Belgrader Ingenieur Zoran Radovic seinen »Ornamentographen«, ein halbmechanisches Zeichengerät, vor; und der Venezolaner Jesus Rafael Soto hat gar, nun wirklich von keinerlei Konstruktivismus-Bestimmung mehr gedeckt, den 25 Meter langen Eingangskorridor des Künstlerhauses mit Perlonschnüren vollgehängt.
Widersprüche solcher Art stecken allerdings schon im Organisationsprinzip der Ausstellung: Der Idee einer internationalen Thema-Schau haben die Veranstalter die biennalenübliche Nationengliederung aufgepfropft, um leichter Zuschüsse von den Regierungen der eingeladenen Länder zu erlangen. Den Kommissaren war es dann überlassen, im eigenen Lande halbwegs linientreue und zugleich präsentable Konstruktivisten aufzufinden.
Doch zu den offiziellen Beiträgen (am stärksten vertreten: die Bundesrepublik, Jugoslawien und die Tschechoslowakei) ließ das siebenköpfige Biennale-Komitee (drei Deutsche, vier Ausländer) auch ein inoffizielles US-Kontingent erstellen und lud einzelne Künstler wie den Abweichler Soto direkt nach Nürnberg ein. Nicht genug damit: Der Biennale sind noch mancherlei »Sonderbeiträge« und »Parallelausstellungen« angestückt.
Als Sonderbeitrag sind beispielsweise Werke des Bauhaus-Künstlers Oskar Schlemmer sowie der Zeitgenossen Joannis Avramidis und Mario Ceroli deklariert ("Konstruktion der menschlichen Figur"), ferner beachtliche Arbeiten von Alt-Konstruktivisten wie Josef Albers, der eigens für Nürnberg 40 Quadratbilder malte, Georges Vantongerloo, Lajos Kassák und Max Bill.
Parallel läuft eine zuvor in Holland präsentierte Rück-Schau des »Stijl«-Künstlers Theo van Doesburg. Auch das Münchner Modern Art Museum hat -- ähnlich Galerien in Koblenz und Berlin -- einen »Wurmfortsatz der Biennale« ("Abendzeitung") mit deutscher Konstruktiv-Kunst abbekommen; und selbst Nürnbergs ehrwürdige Dürergesellschaft nimmt an der Kunstschwemme teil -- im Fembohaus zeigt sie »Konstruktivisten des 16. Jahrhunderts«,
Unübersichtlich und verzettelt, ist die Nürnberger Biennale dennoch ein ergiebiger (und längst fähiger) Tour d'horizon durch künstlerische Linear-, Form- und Farbsysteme -- am eindrucksvollsten da, wo das System den Betrachter als konstruierter Raum umfängt.
So hatte es schon 1923 der russische Konstruktivismus-Pionier El Lissitzky mit seinem nun in Nürnberg rekonstruierten »Prounen-Raum« vorgemacht. So praktizieren es die Nachfolger in mannigfachen Manieren.
Der Ingenieur Max Mengeringhausen und der Architekt Hans Bauer etwa haben den Biennale-Saal im Rathaus mit Standard-Elementen zu einem angemessenen Konstruktivisten-Lokal ausgebaut -- einer kristallinen Ausstellungsgrotte aus Stahlrohr und Eternitplatten.
Durchweg komplette Kunst-Kabinette trägt Italien (Kommissar: der Generalsekretär der Biennale von Venedig, Umbro Apollonio) zur Nürnberger Ausstellung bei. Sie sind mit Karton-Kuben vollgestellt (Leonardo Mosso), mit elastischen Schnüren verspannt (Gianni Colombo) oder mit schwarzweißen Op-Art-Quadraten tapeziert (Getulio Alviani). Und auch der deutsche Plastiker Kaspar Thomas Lenk hat seine geschichteten Bierfilz-Formen nun erstmals und mit Witz im Raum arrangiert.
Einen Raum besonderer Art hat schließlich die Biennale-Leitung in einem abgelegenen Trakt des Künstlerhauses mit allerlei Spiel- und Werkzeug wie Kreidestiften, Baukästen, Filmprojektoren und Geräuschinstrumenten für das Publikum eingerichtet. Hier dürfen, konstruktiv oder nicht, auch -- angeleitete -- Laien ein bißchen malen und ein bißchen lärmen.