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FILM Bilder aus der Wirklichkeit

»Das zweite Erwachen«. Spielfilm von Margarethe von Trotta. Deutschland 1978. 88 Minuten. Farbe. »Deutschland Im Herbst«. Spielfilm von Alf Brustellin, Rainer Werner Fassbinder, Alexander Kluge, Edgar Reitz, Katja Rupé und Hans Peter Cloos, Volker Schlöndorff, Bernhard Sinkel. Deutschland 1978. 134 Minuten. Farbe.
aus DER SPIEGEL 10/1978

Der Berliner Arbeitskreis Film verteilte während der Berlinale ein Film-Würfelspiel, das pfiffig und kenntnisreich nach Art des Monopoly funktioniert. Wer gewinnt, kann in Deutschland einen Film drehen. Auf, einem der Felder darf man rasch weiterrücken, weil man einen Klassiker gelesen hat, der bald seinen 100. Todestag feiert. Dieser auf die Literaturverfilmungs-Wut der Filmförderungsgremien anspielende Gag scheint endlich seine Grundlage zu verlieren. Denn der deutsche Film, mit oder ohne Förderung, entdeckt die Wirklichkeit wieder.

Zwei der interessantesten Beiträge der Berlinale beschäftigen sich empfindsam, genau und mutig mit der durch den Terrorismus und seine Folgen traumatisierten Stimmungslage der Nation. An beiden Filmen fällt sympathisch auf, daß sie sich im Gegensatz zur früheren Agit-Welle mit Politik nicht im abstrakten Überbau der Ideologie beschäftigen, sondern dort, wo sie den allseits erlebten Alltag der Gesellschaft beeinflußt.

Margarethe von Trottas erster eigener Spielfilm »Das zweite Erwachen der Christa Klages« schildert, frei nach den Erlebnissen der Münchner »Banklady« Margit Czenki (SPIEGEL 2/1978), die Geschichte einer Kindergärtnerin, die mit zwei Freunden eine Bank überfällt, um mit dem geraubten Geld ihren Kinderladen zu finanzieren. Es ist eine Tat aus naiver Wut und zornigem Idealismus. Zwar kann diese Christa Klages mit ihrem Freund Werner und dem Geld fliehen -- Wolfgang, der dritte Täter, wird gefaßt

doch gelingt es beiden nicht, ihre Beute dem guten Zweck zukommen zu lassen.

Hilfesuchend wenden sie sich an Leute, deren ratlose, zwischen Angst und Solidarität schwankende Reaktion sie rasch zu dem machen, was man heute Sympathisanten nennt. Hans etwa, Pastor einer kleinen Gemeinde, weigert sich zwar, das Geld in seinem Namen an den Kinderladen zu überweisen, aber er gewährt den beiden Unterschlupf für eine Nacht und versorgt sie mit neuen Kleidern.

Ingrid, Christas Schulfreundin, die mit einem Bundeswehrsoldaten verheiratet ist, will ihnen weiterhelfen. Sie bringt das Geld zum Kinderladen, doch dort verweigert man die Annahme, weil die Polizei den Laden bereits überwacht. Auf der weiteren Flucht wird Werner beim Versuch, einen Wagen zu knacken, erschossen.

Durch Vermittlung des Pastors Hans kann sich Christa mit ihrer Beute nach Portugal absetzen, wo sie in einer Kooperative arbeitet. Doch nach einiger Zeit erfährt man dort von dem aub, Christa muß zurück nach Deutschland. Sie läßt das Geld bei der Kooperative.

Wochenlang versteckt sie sich in einem Appartement. Die Einsamkeit und die Sehnsucht nach ihrem Kind, das in dem Laden lebt, machen sie schier wahnsinnig. Nach einem abgebrochenen Selbstmordversuch geht sie in den Kinderladen zurück, wo sie einige Tage später verhaftet wird. Den Film hindurch verfolgt eine junge Bankangestellte, die von Christa als Geisel genommen worden war, deren Odyssee. Als ihr die verhaftete Christa zur Identifizierung gegenübergestellt wird, erkennt sie ihre Entführerin absichtlich nicht wieder.

Margarethe von Trotta hat sich bewußt aller moralischen Wertung enthalten. Sie beschränkt sich mit deutlichem Mitgefühl -- und mit sehr viel Humor, der die naheliegende bittere Larmoyanz gar nicht erst aufkommen läßt -- auf den Leidensweg dieser Frau, die um Gutes zu tun, keinen anderen Weg sieht, als kriminell zu werden. Was sie dabei am Rande an deutscher Wirklichkeit zwischen resignierter Utopie, Erfahrungsängsten und, vor allem in ihren Frauenfiguren, trotzigen, sehnsüchtigen Verweigerungen einfängt, hat man selten so einsichtig, so genau gesehen.

In den ganz individuellen Ausbrüchen dieser drei Frauen, Christa, die kriminell wird, Ingrid, die sich von ihrem zackig-strengen Mann löst, die Bankangestellte, die überraschend Solidarität entwickelt, äußert sich ein Mut zur Revolte, der seine Energie nicht aus politischer Analyse, sondern aus dem Ende der Indolenz nimmt, mit der sie bisher ihre auferlegten Rollen ertragen haben. Daß Christa einmal meint, sie hätten den Überfall nicht gemacht, wenn sie ihren Freund wirklich geliebt hätte, ist die einzige unnötige, weil zu vordergründige Psychologisierung, die sich Trotta in ihrem ansonsten überraschend sensiblen und mutigen Film erlaubt.

Erstaunt stellt Christa am Ende ihrer Irrfahrt fest, daß sie sich erst ein eigenes Gefängnis habe schaffen müssen, um zu sich selbst zu kommen. Fast dieselbe Bemerkung macht ein Fernsehreporter in dem Kollektiv-Film »Deutschland im Herbst« über Horst Mahler, den er interviewt. Das Mahler-Statement, in dem der Anwalt den Irrweg der RAF in den Wahnsinn des Terrors distanzierend beschreibt, ist selbst Teil dieses Films, der zum aufregendsten gehört, was der junge deutsche Film je produziert hat.

Da gab es endlich einmal keinen Öl auf die Wellen zorniger Phantasie gießenden Fernsehredakteur, keinen halbherzigen Kotau vor der tumben Gremienmentalität der Förderungsinstitutionen. »Deutschland im Herbst« wurde vom Filmverlag frei produziert und der lange aufgestaute Mut überwand endlich die andressierten und verinnerlichten Berührungsängste deutscher Filmer vor der Wirklichkeit.

»Deutschland im Herbst« ist ihr getreues Spiegelbild, wie sie sich nach Stammheim und Mogadischu darstellt: Kraut und Rüben, ein zerfetztes, ratloses und wütendes Panorama von Furcht und Elend der Bundesrepublik. Zwei extreme Bilder ein und desselben Rituals klammern den Film ein: Auffahrt des Mercedes-Konvois bei der Beerdigung Hanns Martin Schleyers. Hinter der Trauergemeinde am Grab weht ein Wald von Esso-Flaggen. Vermummte Gesichter, erhobene Fäuste, rote Fahnen am Grab von Baader, Ensslin, Raspe. Im Hintergrund eine Formation berittener Polizei. Die Wirklichkeit erfindet ihre aufdringlichsten Symbole selbst.

Dazwischen sind mit einer geschickten Dramaturgie des Unfertigen Episoden gesetzt, die von Fassbinder, Brustellin/Sinkel, Reitz, Katja Rupé, Schlöndorff und Kluge stammen. Unter dem Motto »An einem bestimmten Punkt der Grausamkeit angekommen, ist es schon gleich, wer sie begangen hat. Sie soll nur aufhören« versuchen sie, je nach dem Temperament ihrer Macher, jene zwischen Jubel und Empörung schwankende Stimmung einzufangen, die den vergangenen Herbst prägte. Am radikalsten und bis zur Ekelhaftigkeit schonungslos geht dabei Fassbinder vor. In einer exhibitionistischen Einmann-Show läßt er sich abfilmen, während er die entscheidenden Momente -- Geiselbefreiung und Selbstmorde -- miterlebt und sie heulend, schreiend, saufend und Kokain schnupfend kommentiert. In lautstarken Diskussionen mit seiner Mutter, die Auge um Auge, Zahn um Zahn verlangt, verteidigt er die Demokratie, die an seinem eigenen Beitrag, ihre Toleranzgrenze wird prüfen müssen.

Sinkel/Brustellin portraitieren ein Mädchen, das den Herbst der Medien erfährt. Sie arbeitet in einer Gruppe, die politische Filme machen möchte. Privat gehört sie, wie es im Kommentar heißt, einem Fernsehredakteur. Sie erlebt die Abnahme des Mahler-Interviews mit und steht erstaunt und deprimiert dabei, wenn sich Biermann in seinen sattsam bekannten Posen der Mater dolorosa deutscher Nation bei der Rezitation seines Gedichts »Mädchen in Stuttgart« abfilmen läßt. In Franziskas Phantasie gibt es andere Bilder, alltägliche, voller vermeintlicher Belanglosigkeit. Sie bleibt ratlos gegenüber den Wortartisten, die für jede Ungeheuerlichkeit flink Begriffe aus dem Armel schütteln.

Auch Schlöndorff hat sich die Medien vorgenommen. Mit beißender Ironie schildert er nach einem Drehbuch von Heinrich Böll die Sitzung einer Fernsehkommission, die eine Inszenierung von Sophokles« Antigone abzunehmen hat. Der Regisseur bietet die haarsträubendsten Distanzierungsversionen für die im Stück dargestellte Gewalt. Doch die Kommission schmettert das Stück ab mit Argumenten, die nicht erst seit dem Herbst vertraut klingen.

In Alexander Kluges Beitrag versucht eine Geschichtslehrerin die historischen Wurzeln der Aktualität auszugraben. Kluge selbst hilft nach, sprengt den Episodenrahmen und stellt mit Archivmaterial vom Begräbnis Rommels und Bildern aus dem Dritten Reich Geschichtsbezüge her, die der Haltung des Schreckens, aus der dieser Film entstanden ist, eine Phänomenologie staatlicher Gewalt und Ritualinszenierung zuliefert.

Eben diese aktuellen Rituale, Staatsbegräbnis und Schindacker-Atmosphäre, Pomp und Polizei machen, ohne daß es eines Kommentars bedürfte, sinnlich klar, wie zerrissen dieses Land ist. So zerrissen wie dieser Film, der keine bequemen Antworten gibt, sondern mit unbequemen Bildern unseren Zustand abtastet.

Wolfgang Limmer
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