Felsmalereien Blick auf ein Märchen
Als am 1. September drei Amateurtaucher vor der südfranzösischen Küste nahe Cassis verunglückten, schwamm auch Henri Cosquer, Leiter einer örtlichen Tauchschule, zu den Klippen der Calanques hinaus, um die Verschollenen zu suchen. 37 Meter unter dem Meer entdeckte Cosquer die Toten - am Rande eines Felstunnels, um dessen Geheimnis der 41jährige wußte, seit er 1985 erstmals in den schwarzen Schlund getaucht war.
Eineinhalb Monate nach der Bergung der Verunglückten erfuhr nun auch die Welt von dem Mysterium der Calanques. Der unterseeische Tunnel im Fels, so erklärte der französische Kulturminister Jack Lang, münde in eine Grotte mit Höhlenbildern aus der Altsteinzeit: Man habe, schwärmte Lang, »ein Geschichtsdenkmal von weltweit größter Bedeutung« entdeckt.
Der Archäologe Jean Courtin, den Cosquer in das Geheimnis der Grotte eingeweiht hatte und der als bislang einziger Forscher in die Höhle vorgedrungen ist, bekannte, Vergleichbares »in diesem Alter und dieser Schönheit« nie zuvor gesehen zu haben. Courtin wagte eine erste Altersschätzung: Die Malereien der Höhle seien vermutlich vor 12 000 bis 20 000 Jahren entstanden.
Gemeinsam mit Cosquer hatte Courtin den riskanten Tauchgang in den Schlund gewagt. »Die Herausforderung«, erklärte der 56jährige Forscher und Hobbytaucher vom Centre national de la recherche scientifique, sei »einfach wichtiger gewesen als der Gedanke an die Gefahr«.
Durch den Schlund im Fels, schilderte Courtin das Unterwasser-Abenteuer, hätten sich die Taucher schwimmend »37 Meter weit durch eine nur einen Meter breite Röhre« vorantasten müssen; durch Wasser, das durch aufwirbelnden Schlamm »dick wie Erbsensuppe« war. Der enge Schlauch öffnete sich sodann in einen »150 Meter langen, langsam ansteigenden Tunnel von zwei Metern Durchmesser«.
Am Ende mußten sich die Taucher durch ein »enges Loch« zwängen, ehe sie in einer etwa vier Meter hohen Felskammer den Wasserspiegel durchstießen. »Im Licht unserer Lampen«, so Courtin, »schauten wir ein Märchen.«
Gravuren, von Künstlern der Steinzeit in den Fels geritzt, und Malereien von Pferden aus derselben Epoche schmücken die Wände der Kammer. Manche der gemalten Tierleiber ragen nur mehr mit Kopf und Rücken aus dem Wasser; was sich darunter befand, so Courtin, sei durch das Meerwasser zerstört.
Wie aus einer Krypta ins Hauptschiff einer Kirche, so tapsten die Taucher aus der Felskammer in jene Grotte, die ihr Entdecker Cosquer die »Kathedrale« nennt: ein Gewölbe von etwa 30 Metern Höhe, mit einem Durchmesser von 50 bis 60 Metern. Im Schein der Halogenlampen entdeckte Cosquer an der Decke der Grotten-Kathedrale »mehrfarbig geschmückte Stalaktiten«. An den Wänden prangen Dutzende von Tierbildern, die von den Urzeit-Künstlern mit ihren mit Tierfetten gebundenen Mineralfarben und mit Pinseln aus Tierhaaren auf den Fels gemalt worden sind: Darstellungen von Steinböcken, Hirschen, Wisenten, Pferden und Vögeln.
Auch Szenen aus dem Alltagsleben schmücken die Felsen, es finden sich Abbilder von menschlichen Händen (auch von verstümmelten) sowie - einstweilen unverständliche - Gravuren. Auffallend, so erklärte Courtin, seien Wisentköpfe, die nicht, wie sonst für steinzeitliche Höhlenmalereien typisch, im Profil, sondern »in Dreiviertel-Ansicht dargestellt« sind. Auch entdeckte der Forscher Pferde mit besonders hervorgehobenen Geschlechtsteilen - eine für die Altsteinzeit, so Courtin, »sehr seltene Darstellungsform«.
Zu der Zeit, als die Höhlenmaler die Grotte ausschmückten, hatte die »wunderbare Kathedrale« (Courtin) etwa 80 Meter über dem Meeresspiegel gelegen. Weil im Laufe der Jahrtausende das Mittelmeer anschwoll und schließlich den Zugang zur Grotte versperrte, blieb das »vom Meer geschützte Lascaux« (Figaro) bis zu seiner Entdeckung unberührt.
Experten glauben nun, daß die so wundersam erhaltene Steinzeit-Kultstätte in ihrer Bedeutung womöglich noch höher einzuschätzen sei als die berühmte Höhle von Lascaux im südwestfranzösischen Departement Dordogne. Auch diese Felsgrotte war, im September 1940, durch einen Zufall entdeckt worden, als Knaben ihrem entlaufenen Hund nachspürten und dabei in die später von Gelehrten als »Versailles der Eiszeit« gerühmte Höhle vordrangen.
Anhand von Farbproben datierten Wissenschaftler das Alter der Lascaux-Darstellungen auf 16 000 Jahre. Mit Staunen registrierten Gelehrte die »verwirrende und kaum glaubhafte Leuchtkraft der Farben«, mit denen die Eiszeit-Künstler einst Pferde, Hirsche und Stiere auf den Fels gemalt hatten.
Archäologen spürten in Lascaux Pinsel aus Tierhaaren auf, mit denen bis zu 20 verschiedene Farbstoffe aufgetragen wurden; auch fanden sie Röhrenknochen, durch die Farbpartikel als Puder auf den Felsuntergrund geblasen wurden. 1963 dann, nachdem die Ausdünstungen von Zehntausenden von Besuchern die einzigartigen Meisterwerke zu zerstören drohten, wurde Lascaux für Besucher gesperrt.
Vor einem vergleichbaren Schicksal wird nun das Meer vorerst die neuentdeckte Kathedrale der Calanques bewahren. Schon Tauchlehrer Cosquer hatte sich nach eigenem Bekunden in »mehreren Tauchgängen, jeweils um weitere 20 Meter« durch den Felstunnel bis zur Höhle voranarbeiten müssen.
Ende 1985 sei es ihm erstmals gelungen, so Cosquer, in die Kathedrale vorzudringen. Schon damals fotografierte er die imposante Tropfsteinhöhle, aber erst sehr viel später erkannte er die wahre Bedeutung seiner Entdeckung: als er, wie sich Cosquer jetzt erinnert, »auf der Vergrößerung einer der Aufnahmen das Abbild einer Hand entdeckte«.
Als Tauchlehrer Cosquer nun zusammen mit dem Archäologen Courtin ein weiteres Mal bis zur Kathedrale vordrang, brachte der Wissenschaftler Filme und Farbproben aus der Höhle mit. Anhand von insgesamt zwei Gramm zusammengekratzter Farbpartikel hoffen nun Forscher in Lyon das Alter der Malereien bestimmen zu können.
Die eiszeitlichen Kunstwerke im Innern der Höhle sollen erst später gesichtet und erforscht werden - von oben her, trockenen Fußes. Vom Felsplateau der Calanques soll mittels vorsichtiger Bohrungen ein neuer Zugang zur Felsengrotte eröffnet werden.
Der natürliche Eingang unterm Meerespiegel wurde unterdes mit Felsbrocken versiegelt. »Es gibt zu viele Taucher in und um Marseille, die sonst womöglich versuchen würden, in die Grotte vorzudringen«, erläuterte Courtin die Vorsichtsmaßnahme.
Das aber, so Courtin, wäre nicht nur bedrohlich für die Malereien, sondern auch für die Neugierigen - »da unten«, weiß der Hobbytaucher und Höhlenforscher, »ist es verdammt gefährlich«. o