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PHOTOGRAPHIE Blick ins Fremde

Das Werk des halbvergessenen Indianerphotographen Curtis wird durch ein Buch wieder ans Licht geholt.
aus DER SPIEGEL 15/1979

Im März 1905, bei einer Feier zur Amtseinführung von Präsident Theodore Roosevelt, sollte der Photograph Edward Sheriff Curtis eine Gruppe Indianerhäuptlinge in Washington aufnehmen. Im Nieselregen baute er den Apparat auf. Da trat einer der Indianer hervor und breitete schützend seine rote Decke über Kamera und Kameramann: der Apachenhäuptling Geronimo, einst aIs »Schrecken der Prärie« bekannt.

Schirmende Gesten von Rothäuten hatte Curtis (1868 bis 1952 sich wohlverdient, und er hat sie gut genutzt. Der Lichtbildner aus Wisconsin ließ das florierende Atelier, das er in Seattle an der US-Westküste unterhielt, überwiegend von Kompagnons führen. Er selbst ging unterdessen, 30 Jahre lang, auf Photo-Expedition zu den Indianern Nordamerikas.

Von 1897 bis 1927 suchte Curtis die damals noch mehr in alten Traditionen lebenden Ureinwohner des Kontinents auf -- über 80 Stämme von Alaska bis New Mexico, Eskimos an der Beringstraße und Pueblo-Indianer in den südlichen Rocky Mountains, Waldbewohner in Montana wie Prärienomaden in Nebraska.

Der »Schattenfänger«, wie sie ihn nannten, war keineswegs der einzige Photopionier auf dem Pfad der Rothäute. Aber keiner vor und nach ihm photographierte Indianer mit so souveräner Kunst und so klarer ethnologischer Einsicht wie Curtis, und nur er legte systematisch eine »Photographische Geschichte der Indianer Nordamerikas« an, ein »bleibendes Denkmal ihrer Rasse« -- ehe sie, in ihre Reservationen gepfercht, vollends ihre ursprünglichen Lebensformen aufgaben.

An Curtis' Dokumentation von über 40 000 Aufnahmen erlebten Zeitgenossen eine »gespenstische Mystik«. Präsident Roosevelt' der das Projekt entscheidend gefördert hatte, rühmte, der Photograph habe »uns einen Blick in das ganz fremdartige geistige und seelische Leben der Indianer vermittelt, von dessen innersten Bezirken alle Weißen für immer ausgeschlossen sind«.

Dieser verständnisvolle Blick fand, mit der Finanzhilfe eines Wallstreet-Krösus, seinen Niederschlag in einem zwanzigbändigen Werk »The North American indian«, das jedoch nur in wenigen hundert Exemplaren aufgelegt wurde und bald in wissenschaftlichen Bibliotheken verschwand. Dem halben Vergessen wird es jetzt nach einer Curtis-Renaissance in den USA auch für das deutsche Lesepublikum entrissen: Der Münchner Verlag C. H. Beck hat soeben eine repräsentative Auswahl aus dem legendären Kompendium als Buch herausgebracht*.

Darin erläutert Florence Curtis Graybill, eine Tochter des Photographen, die ihren Vater zeitweise begleitet hatte, sein Erfolgsgeheimnis: Der Schlüssel zum Vertrauen der Indianer war für Curtis ihre Glaubenswelt, die er ernst nahm und als »Theologie« anerkannte. Der Photograph vertiefte sich ins Studium der vergleichenden Religionswissenschaft und schleppte auf Tour stets eine einschlägige Handbibliothek mit.

* »Ein Denkmal für die Indianer«. Text von Florence Curtis Graybill und Victor Boesen. Verlag C. H. Beck, München: 216 Seiten; 58 Mark.

Curtis erhielt so Zugang zu mysteriösen Kulthandlungen, die vor ihm kein weißer Mann gesehen oder gar verstanden hatte. In Montana photographierte er die von den Mandan-Indianern verehrten heiligen Schildkröten, bei den Hopis in Arizona durfte er sich am Schlangentanz beteiligen -- ein Ritus, bei dem die Götter um Regen angefleht werden. Den Apachen, von deren angeblicher Grausamkeit man bis dahin auf einen Mangel an jeglicher Religiosität geschlossen hatte, entlockte Curtis die Erzählung ihres noch unbekannten Schöpfungsmythos -- und eine für die Wissenschaft aufschlußreiche heilige Gebetskarte.

Der Photograph wohnte einer Sioux-Gefallenenehrung auf dem Schlachtfeld am Little Big Horn und der Apachen-Zeremonie der Mescal-Ernte bei. Auch an einem kultischen »Mumienschmaus« der Kwakiutl in Kanada wird er teilgenommen haben, obwohl er, so Tochter Florence, diesbezüglich »jede Antwort verweigerte«.

»Die Indianer haben«, so schmeichelte sich Curtis »die Idee meines Vorhabens begriffen.«

Tatsächlich bekundeten die von Curtis Porträtierten, keineswegs photoscheu, selber bald starkes Interesse an den Aufnahmen. Der »Schattenfänger« mußte in die Wigwams von Nordamerika nach eigenem Bekunden so viele Photos verschicken, daß man am Ende »den ganzen Nordwesten damit tapezieren könnte«.

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