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MEDIZIN Blick ins Innerste

Fortschritte der Optik und Physik ließen einen Medizinertraum Wirklichkeit werden: Jede Leibeshöhle und fast alle Organe können von außen inspiziert werden.
aus DER SPIEGEL 1/1975

Der erste Patient war ein Schwertschlucker, dem beruflicher Ärger ein Magengeschwür eingetragen hatte. Als sein behandelnder Arzt, der Freiburger Professor Adolf Kußmaul, ihn bat, den Defekt durch ein von ihm entwickeltes, neuartiges Sehrohr in Augenschein nehmen zu dürfen, stimmte der leidgeprüfte Artist zu. Doch die ärztliche Prozedur war schlimmer als das Schwertschlucken. Deshalb fand Kußmaul nur einmal und nie wieder einen Freiwilligen. So starb, 1868, die »Endoskopie«. kaum erfunden, gleich wieder aus*.

Mehr als hundert Jahre später gilt die Innenschau jedoch als »zukunftsträchtige Spezialdisziplin« und »gleichwertige Schwester der Röntgenologie« (Ärztemagazin »selecta").

Ende letzten Jahres setzte der amerikanische Wissenschaftler Charles P. Olinger der stürmischen Endoskopie-Renaissance die Spitze auf: Er stach mit dem »dünnsten Endoskop der Welt« -- so das US-Fachblatt »Medical World News« -- in den Wirbelkanal eines Patienten und leuchtete das Rückenmark aus. Durchmesser seines Geräts: 1,3 Millimeter, diinner als ein Streichholz.

Diese für den Kranken nahezu schmerzfreie Inspektion wichtiger Teile seines Zentralnervensystems markiert einen letzten Höhepunkt der Endoskopie: Nun ist jede Leibeshöhle, und sei sie noch so klein, der direkten Betrachtung von außen zugänglich.

Möglich wird die weithin gefahrlose Ausspähung durch eigens konstruierte Geräte, die »Endoskope«, deren wichtigster Bestandteil ein Bündel lichtleitender, biegsamer Glasfäden ist -- es leitet das Bild aus dem Körperinnern um alle Krümmungen. Starre Endoskope à la Kußmaul werden deshalb immer seltener verwandt.

Die längsten Fiberglas-Endoskope messen mehr als zwei Meter, die kürzesten sind nicht größer als ein Daumen. Durch Mund, Nase oder After, aber auch durch eigens gesetzte Öffnungen (etwa zur Leberuntersuchung) werden die schmiegsamen Diagnosehilfen in den menschlichen Organismus eingeführt. Vornehmlich japanische Firmen haben die optischen und mechanischen Eigenschaften der Endoskope in letzter Zeit erheblich verbessert. Freute sich das Berliner Ärzteblatt: »Ex oriente lux.«

Es gelang, den Durchmesser der kunststoffbeschichteten Sehrohre auf

* Endoskopie: Untersuchung von Körperhöhlen durch Betrachtung; von griech. »endon« = innen und »skopein« = betrachten.

wenige Millimeter zu verringern und trotzdem im schmalen Lumen mehrere Aggregate unterzubringen. So enthalten moderne »Gastroskope«, die der Untersuchung des Magens dienen, neben der Fiberglasoptik ein System aus feingesponnenen Drähten. Diese drehen die Spitze des Endoskops in jede gewünschte Richtung, versorgen die starke Lichtquelle mit Strom und ermöglichen Farbphotos vom Mageninnern mit Hilfe einer aufgesetzten Kamera.

Den auf diese Weise aufgespürten verdächtigen Bezirken kommt das Endoskop dann mit einer Zange nahe: Greifer aus Stahl, die aussehen wie die Beine eines Maikäfers, zwacken eine Gewebsprobe zur mikroskopischen Untersuchung ab.

Auf zarte Weise erfüllt eine kleine Nylonbürste den gleichen Zweck. Ferngesteuert schabt sie Schleimhautzellen aus Speiseröhre, Magen und Darm. Die besonders teuren Geräte übertragen zudem Bilder aus den Leibeshöhlen auf Farbfernsehschirme und Leinwände. Hauseigene Endoskopie-Vorstellungen großer Universitätskliniken gelten deshalb derzeit als das Nonplusultra ärztlicher Fortbildung.

Die vielseitigen Möglichkeiten der Endoskopie, vornehmlich zur Frühdiagnose, nutzen mittlerweile nahezu alle medizinischen Fachrichtungen: > Lungenärzte inspizieren die tiefen Luftwege und den schmalen Spalt zwischen Rippen und Lungenfell; > Gynäkologen erhellen die Gebärmutter und suchen im Rahmen der »vorgeburtlichen Diagnostik« bei Schwangeren nach den Zeichen frühkindlicher Defekte;

* Neurologen bohren pfenniggroße Löcher in das Schädeldach, um Hirntumoren endoskopisch aufzuspüren;

* Orthopäden blicken neuerdings nahezu unblutig ins Kniegelenk. Besonders dankbar aber zeigen sich die Internisten, denen durch die Endoskopie erstmals Lichter gesetzt werden. Bisher war diese kopfstärkste Facharztfraktion vornehmlich auf diagnostisches Fingerspitzengefühl. das Hörrohr und die Deutung der Grautöne von Röntgenbildern angewiesen. Jetzt blicken sie durch.

In der Medizinischen Universitätsklinik Erlangen beispielsweise, deren Chef Professor Ludwig Demling zugleich Gründungspräsident der »Deutschen Gesellschaft für Endoskopie« ist, kann nicht nur jeder Abschnitt des sechs Meter langen Magen-Darm-Kanals ausgeleuchtet und photographiert werden. Die fränkischen Endoskopiker dringen -- unter Fiberglaskontrolle -- vom Darm aus auch in die Gallenwege und in die Bauchspeicheldrüse vor. Ihre Ziele, laut Demling, sind die Ausschaltung aller noch »blinden Flecken«, die Kombination von Endoskopie und Röntgenphotographie in einem Arbeitsgang, der Zugang zu allen kleinen Gängen der Organe sowie der Ausbau der Endoskopie-Kontrolle während chirurgischer Eingriffe.

Manche Operationen allerdings werden schon jetzt durch die Endoskopie überflüssig. Eine zuverlässig gesicherte Diagnose, die der Doktor auf Farbdias getrost nach Hause trägt, schlägt dabei ebenso zu Buche wie die Schlingen, welche neuerdings gelegt werden. Spezial-Endoskope, die für Magen und Darm konstruiert sind, enthalten nämlich an ihrer Spitze eine Drahtschlinge, mit der sich Schleimhautwucherungen ("Polypen") samt Stumpf und Stiel abtragen lassen -- ohne Narkose und die sonst nötige chirurgische Öffnung der Bauchhöhle.

Von dieser Neuerung versprechen sich die Experten vor allem Erfolg bei der Bekämpfung des Darmkrebses, der inzwischen an zweiter Stelle der Karzinomsterblichkeit bei Männern steht. Da jeder zehnte Polyp krebsartig zu wuchern beginnt, ist die rechtzeitige und vorsorgliche Entfernung aller Polypen mittels Endoskop nach Ansicht von Dr. Viktor A. Gilbertsen, dem Chef des Krebs-Diagnose-Zentrums der Universität von Minnesota« die »sichere und schmerzfreie Rettung« für vier von fünf potentiellen Darmkrebskranken. Gilbertsen muß es wissen: Sein Ärzteteam hat 85 000 Enddärme erhellt und saniert.

Auf besondere Weise haben auch die Erlanger Endoskopiker sich dieser Dunkelzone genähert: Als erste Ärzte der Welt konnten sie ein Endoskop von der Mundhöhle aus so geschickt dirigieren, daß die helle Lampe am Ende schließlich wieder ins Freie trat.

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