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Kino Böse Muse

»Misery«. Spielfilm von Rob Reiner. USA 1990; 107 Minuten; Farbe.
aus DER SPIEGEL 17/1991

Von Ferne nur und ganz zart hatte sie ihn geliebt, ihren Dichter. Als er ihr plötzlich in den Schoß fällt, weiß sie sich und ihm ganz handfest zu helfen. Sie hatte sich vorher alles genau ausgedacht: Sie würde den Mann wieder aufrichten, ihn von seiner Erdenschwere befreien und mit ihm ein Traumpaar bilden, genauso schön und rein, wie er es in seinen Büchern ausgemalt hatte.

Von den vielen Fans, die sich der Schriftsteller Paul Sheldon mit seinen Büchern erworben hat, ist die ehemalige Krankenschwester Annie Wilkes bestimmt der leidenschaftlichste. Sie kennt seine Bücher auswendig, weiß über jedes Detail aus seinem Leben und seiner Arbeit Bescheid. Ausgerechnet ihr widerfährt der unwahrscheinliche Glücksfall, daß Paul Sheldon (James Caan) im Schneesturm von der Straße abkommt, sich mit dem Auto überschlägt und bewußtlos liegenbleibt.

Annie befreit ihn aus dem Wrack, schleppt ihn nach Hause auf ihre einsame Farm in den verschneiten Bergen von Colorado und hegt und pflegt ihn mit der ganzen Liebe, zu der nur ein von aller Welt übergangener Mensch fähig ist. Denn Annie (Kathy Bates, die für diese Rolle eben einen Oscar bekommen hat) ist furchtbar häßlich; »Drachenlady« hat man sie genannt. Sie ist geschlagen mit ihrem in Schwermut aufgequollenen Körper, ihrem Neid auf den Erfolg, den andere haben und sie nicht.

Doch jetzt hat sie den Mann ihrer Träume ganz für sich. Seine Agentin in New York (Lauren Bacall in einer Gastrolle) hält ihn für tot, während der Autor als wehrloser Schützling mit gebrochenen Beinen und lädiertem Arm im Gästebett Annies liegt. Sie füttert, wäscht und rasiert ihn, zum Urinieren bringt sie ihm eine leere Plastikflasche. Der Schnee, der das Haus umgibt, ihre Spritzen, betäubende Schmerztabletten halten ihn fest; die beiden werden nicht mehr voneinander loskommen.

Rob Reiner, der zuletzt die wunderbar umständliche Liebesgeschichte »Harry und Sally« (1989) drehte, führt mit »Misery« den schlimmsten Alptraum eines Schriftstellers vor: Der Autor begegnet seiner Muse. Damit gelingt ihm ein ungewöhnliches Kunststück: eine gruselige Komödie, die nur knapp am tödlichen Ausgang vorbeischrappt.

Mit ihrem manchmal fast mikroskopischen Blick für Details sorgen Reiner und sein Drehbuchautor William Goldman für eine klaustrophobische Spannung, die den Zuschauer erbarmungslos bis zum Ende hetzt. »Misery« bewegt sich auf dem schwankenden Boden der Thriller Hitchcocks und kommt deshalb fast ganz ohne die Greuel und Scheußlichkeiten aus, mit denen Stephen King, der Autor der Romanvorlage ("Sie"), seine Leser-Millionen sonst gern verwöhnt. Das Konkubinat mit Schreibmaschine und Muse ist für sich schon schrecklich genug.

Seit er nämlich die erfolgreiche »Misery«-Romanserie schreibt, hat Paul Sheldon seine Seele verkauft. Misery Chastain ist eine leidgeprüfte, dabei züchtige Heldin, die sich durch viele erfolgreiche Abenteuer gelitten hat. Aber Sheldon will nichts mehr wissen von seinem Ruhm, seinem Erfolg als Kitschautor und von seiner edlen Heroine. Schnöde hat er sie in einer letzten Folge sterben lassen und anschließend einen Roman über seine Jugend geschrieben, ein echtes, ein literarisches Werk.

Annie ist entsetzt, als sie das neue Manuskript liest. Und ihre Liebe zu Paul schlägt um in einen biblischen Haß, als sie merkt, daß er Misery im jüngsten Buch der Serie getötet hat. Sie zwingt ihren vormals geliebten Dichter, dieses Ende zu redigieren, besorgt ihm, ganz Muse, Schreibmaschine und Papier und läßt ihn ihr ganzes Glück ins Leben zurückholen. Das einzige Exemplar seines literarischen Versuchs muß er auf dem Grill verbrennen.

Ein aussichtsloser Wettlauf beginnt: Um zu überleben, muß Sheldon seine gemordete Schnulzenkönigin von den Toten erwecken und weiß dabei genau, daß ihm nach Vollendung des revidierten Machwerks genauso der Tod droht. So schreibt er um sein Leben, voller Angst und dabei mit sichtbar wachsender Begeisterung, schreibt Seite um Seite voll und sich zurück in die überwunden geglaubte Vergangenheit.

Er ist endlich zum willigen Sklaven seiner bösen Muse geworden. Schreiben kann lebensgefährlich sein.

Willi Winkler

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