GRASS Bremsende Gurgel
Pennäler Mahlke liegt auf dem Bett. Seine Hand fährt prüfend an den Adamsapfel. Dann - so schreibt das Drehbuch vor - langt sie aus dem Bild, ergreift eine Maus und schiebt sie in Mahlkes Mund. Der Adamsapfel hüpft.
In rascher Folge verschluckt Mahlke noch weitere sieben Mäuse. Als er den Mund erneut öffnet, springen die Mäuse wieder heraus. Mahlke schluckt, sein Adamsapfel tanzt.
Derlei phantastisches Lichtspiel soll nach dem Willen dreier Westberliner gegen Jahresende die deutschen Kinogänger erbauen: Der 28jährige Produzent Hansjürgen Pohland, der bereits die modernistische Böll-Verfilmung »Das Brot der frühen Jahre« (SPIEGEL 22/1962) betrieb, hat den 32jährigen Theaterregisseur Walter Henn verpflichtet, des 35jährigen Günter Graß absonderliche Novelle »Katz und Maus« zu verfilmen.
Am Tummelplatz vieler Graß-Helden, in Danzig, sollen am 10. Juni die Dreharbeiten beginnen. Produzent Pohland hat bereits eine polnische Produktionsgruppe angeheuert, und die Drehvorlage des Autors ist zu 50 enggetippten Schreibmaschinenseiten gediehen. Nur eines fehlt den »Katz und Maus«-Verfilmern: der Hauptdarsteller. Obwohl alle Beteiligten seit nunmehr vier Monaten nach einem Mahlke fahnden, ließ sich bisher kein geeigneter Darsteller ausmachen.
Die Besetzungs-Problematik erklärt sich aus der merkwürdigen Figur des Grad-Helden. Die mit Derbheiten durchsetzte Bestseller-Geschichte »Katz und Maus« (SPIEGEL 42/1961), eine lockere Folge von Schnurren und Streichen Danziger Pennäler, kreist auf 180 Druckseiten eine körperliche Besonderheit des Schülers Joachim Mahlke ein: Der Held ist mit einem peinlich auffälligen Halsknorpel behaftet (im Graß -Jargon »Maus« genannt), der »groß war, immer in Bewegung und einen Schatten warf«.
Da ein besonders ausgeprägter Adamsapfel aber in der von Graß bemühten Volksmeinung als ein Zeichen stark entwickelter Potenz gilt, versucht Mahlke nach Kräften, von der »Maus« abzulenken. Er hängt sich Schraubenschlüssel, Büchsenöffner, Korkenzieher, Medaillons und Bommeln mittels Schnürsenkel um. Zuletzt erkämpft er sich gar das Ritterkreuz.
Als Graß und Henn im Frühjahr 1961, noch vor Erscheinen des Bändchens, die Verfilmung erwogen hatten, schien die Besetzung kein ernsthaftes Problem zu sein. Auch ein Jahr später, als sich die beiden Schnurrbartträger mit dein Produzenten Pohland verbündeten, wurden die Vorarbeiten am Drehbuch wichtiger genommen als die Beschaffung eines Hauptdarstellers.
Inzwischen aber mußten sie erfahren, wie außerordentlich schwierig es ist, einen Darsteller zu finden, der nicht nur die Ansprüche des Regisseurs erfüllt, sondern auch den Vorstellungen des Mahlke-Erfinders entspricht. Denn Autor Graß stellt an den Mahlke-Interpreten eine Reihe ungewöhnlicher Anforderungen:
- Er soll einen ausgeprägten Adamsapfel besitzen, von Graß als »bremsende Gurgel« beschrieben.
- Sein Gesicht soll länglich sein, mit großer fleischiger Nase, aufgestülpter Oberlippe und hauerartigen, schrägstehenden Schneidezähnen. Weitere Kennzeichen: ausladender Hinterkopf, abstehende Ohren, dünnes blondes Haar, helle Augen, entzündete Lider, wenige Wimpern.
- Er soll im Verlauf der Handlung von 14 auf 21 Jahre altern und sowohl den Pennäler als auch den Ritterkreuzträger glaubhaft machen können.
Mit derart präzisen Angaben ausgerüstet, hatten Pohlands Talent- und Typenspürer Ende November vergangenen Jahres zunächst auf dem üblichen Weg Nachforschungen betrieben. Sie schrieben Agenturen und Manager an. Dann besuchten sie fünfzehn Berliner Schauspielschulen, die Besetzungsbüros einiger Fernsehsender und durchwühlten bei mehreren Filmgesellschaften einige Tausend Photos - ohne Erfolg.
»Mit so einem Gesicht ist man ja auch gehandikapt«, überlegte Pohlands Produktionsleiter Peter Genée, »mit so einem Gesicht wird man nicht Schauspieler.«
Nun willigten Graß und Henn ein, unter Laien Ausschau zu halten. Ein Spähtrupp suchte Westberliner Schulen, Berufsschulen, Privatschulen, Jugendheime, Wohnheime, Freizeitheime, Lehrlingsstifte und Tanzschulen ab. Über fünfhundert Kandidaten wurden in Pohlands Büro vorgeführt. Graß und Henn lehnten alle ab.
»Es ist ja ein Jammer in Deutschland«, resümierte Graß. »Die Laien sind unbegabt, und die jungen Schauspieler sehen alle wie Paul Hubschmid aus und benehmen sich auch so: nett, lang und langweilig.«
In diesen Tagen starteten die »Katz und Maus«-Verfilmer ihre vorerst letzte Suchaktion: Sie verschickten 163 Suchmeldungen an deutsche Provinztheater.
Mahlke-Erfinder Graß sieht sich derweil von seinem schrulligen Buchhelden psychisch bedrängt: »Ich kann nicht mehr ins Theater gehen, ohne den Leuten auf den Adamsapfel zu gucken.« Veranstaltet er eine Lesung, wird er von der Überlegung gequält: »Na, soll ich nach Mahlke fragen?«
»Katz und Maus«-Verfilmer Henn, Graß: Adamsapfel gesucht