»Buchen, bezahlen und zu Hause bleiben?«
Wer zu seinem Vergnügen in die Sowjet-Union reist, tut dies normalerweise als Bestandteil einer Gruppe. wobei der Anhanglose die Wahl hat zwischen einer Einbettklause mit Bad oder Dusche (1. Kategorie), einem Bett im Doppelzimmer (2. Kategorie) und einer Schlafstelle im Dreibettzimmer (Touristenklasse). Wem im Kollektiv die Reiselust vergeht, der muß -- zum dreifachen Preis -- einen Dienstleistungs-Modus beantragen, der von der sowjetischen Fremdenverkehrs-Organisation »Intourist« mit dem Wort »Luxus« belegt wird, In dieser vielversprechenden Einstufung besuchte ich die Städte Kiew, Moskau und Leningrad.
Daß Luxus im Mutterland des Sozialismus nicht notwendigerweise das gleiche bedeutet wie im Tessin, entnahm ich bereits den im Westen gedruckten Reiseführern. die dem Sowjet-Tourismus »völlig andere historische Voraussetzungen« bescheinigen. Um so gespannter war ich darauf, worin sich das Unübertreffliche vom nur Erstklassigen unterscheiden würde.
Das massiv-stählerne Eßbesteck, das mir auf dem Hinflug die Aeroflot-Stewardess statt der gewohnten Behelfsinstrumente aus Kunststoff in die Hand drückte, war kein Privileg, vielmehr ein erster Hinweis darauf, daß die Gesellschaft, der ich mich näherte, keine Wegwerfgesellschaft ist.
Auch die Buchara-Teppiche. Marmorsäulen, frühromantischen Meister und aller sonstige Beherbergungsprunk, dem ich in den folgenden zehn Tagen begegnete, galten nicht meinem elitären Status, sondern waren touristisches Allgemeingut. Was das Individuum de luxe vom schlichten Gruppenpartikel abhebt, ist weniger ästhetischer als organisatorischer Natur.
Wo immer ich landete, kannte und nannte man mich heim Namen, wurde ich vorrangig abgefertigt, stand jemand bereit, dem nichts auf Erden so wichtig zu sein schien wie meine Person. Auf dem Moskauer Flugplatz. wo mich die Woge der einheimischen Mitpassagiere in einen bereitstehenden Bus gespült hat, muß dieser Bus eine Dreiviertelstunde warten, bis ich als der angekündigte Fremdling entlarvt und in ein ebenso großes leeres Transportmittel umgestiegen bin. Und überall der gleiche unumstößliche Marschbefehl: »Sie werden wohnen im Hotel X!«, auch wenn ich lieber im Hotel Y abgestiegen wäre. Denn so frei jeder Intourist zwischen den Bolschoi-Ballettaufführungen »Giselle« und »Schwanensee« wählen darf, so unfrei ist er in der Wahl seiner Unterkünfte.
Über das Ausmaß des Wohn- und Schlafkomforts, das einem Reisenden der Luxusklasse gebührt, scheinen die Vorstellungen regional auseinanderzugehen. Das Hotel »Dnipro« in Kiew billigte mir ein gewöhnliches Doppelzimmer mit Bad zu. Im Moskauer »Leningradskaja«, einem zwanzigstöckigen Tower-Inferno aus der Stalin-Ära, erwartete mich eine Zimmerflucht, ausgestattet mit Fernsehapparat und Kühlschrank. Im altehrwürdigen Leningrader »Astorija« gab es immerhin viel roten Plüsch, eine Schlafnische und ebenfalls ein TV-Gerät.
Daß im »Leningradskaja« kein heißes Wasser lief, die Fernsehröhre defekt war und der Kühlschrank das Geräusch eines Mähdreschers nachahmte, fiel, da unter meinen Fenstern rund um die Uhr gebaggert wurde, kaum ins Gewicht.
Auch daß im »Astorija« das Badewasser zwar heiß, aber jauchefarben aus der Leitung kam (was ich zunächst für einen gesundheitsfördernden Moorbad-Effekt hielt), daß Trockenrasierer-Steckdosen grundsätzlich fern von reflektierenden Flächen installiert werden oder daß ein Staatswesen, dem der erste bemannte Raumflug gelungen ist, so achtlos an der Erfindung von Glühbirnen vorbeigeht, die imstande sind. mehr als 30 Watt die Stunde zu verbrauchen, all solche und ähnliche kleine Wunderlichkeiten werden reichlich wettgemacht.
Etwa durch die menschliche Anteilnahme der Telephonistinnen, die nicht nur Rufnummer und Namen, sondern auch Verwandtschafts- bzw. Verschwägerungsgrad derjenigen wissen wollen, mit welchen man im Ausland zu sprechen wünscht.
Wer für die Spitzenklasse gebucht und vorausbezahlt hat, dem stehen nicht nur Flüge, Transits und Luxus-Suiten zu, er hat sich auch ein Recht auf Besichtigung des Sehenswerten erworben. Drei Stunden am Tag kann er über einen »Moskwitsch« oder »Wolga« mit Chauffeur und deutsch sprechenden Fremdenführer gebieten.
Russische Fremdenführer sind fast ausnahmslos weiblichen Geschlechts. im Hauptberuf Lehrerin oder für den Außenhandel tätig, zudem stark im sozialistischen Glauben und -- mit glückhaften Ausnahmen -- von geringem physischen Reiz. Kommt man zur vereinbarten Zeit in die Hotelhalle, kann es nur die rundliche, in einem Wachstuchheft blätternde Mittvierzigerin sein, die man schon vor einer halben Stunde dort hat sitzen sehen. Indes, innere Vorzüge vergolden den Augenschein. Bei Walentina in Kiew ist es die Höflichkeit. »Welche hervorragenden Werke haben Sie bereits veröffentlicht?« fragt sie mich, nachdem sie meinen Beruf erfahren hat.
Die Luxus-Klasse bietet freilich auch Vergünstigungen, die sich der Vorausplanung entziehen. Zum Beispiel kann sich der Einzelgänger, wie ihm eine viersprachige Anleitung versichert, das Frühstück ins Appartement bestellen.
Mein einziger Versuch, für einen der mit »Breakfast« beschrifteten Coupons den landesüblichen Gegenwert zu erhalten, führte zu folgendem Resultat: ein Glas Tee, ein hartgekochtes Ei, ein Schälchen Pflaumenkompott ("Jam") und eine Kaffeetasse, bis zum Rand gefüllt mit feinstem Kochsalz. Daß die zwei Scheiben Weißbrot, auf deren Beibringung ich bestand, mehrere Tage alt waren, entsprach der Gepflogenheit. Die sowjetischen Bäcker müssen beim Brotausliefern irgendwann aus dem Takt geraten sein.
Ein unbestreitbarer Vorteil der obersten Kategorie ist die Unabhängigkeit vom Stundenplan der Sightseeing-Herden. Man braucht das Nachtleben -- sprich: Abendessen bei Musik, Gesang und Tanz -- nicht in seinem Hotel zu genießen, sondern kann in ein anderes gehen. Man kann am Krawattenstand des Super-Basars »Gum« zusammen mit dem Mann aus Tadschikistan die unmißverständlich bebilderte Anleitung zum Knüpfen eines Windsorknotens bestaunen, kann sich für 20 Kopeken das beste Sahne-Eis des euro-asiatischen Kontinents kaufen, braucht sich von keiner Fremdenführerin weismachen zu lassen, die Basilius-Kathedrale am Roten Platz, wohl eines der gelungensten Werke Walt Disneys, stamme aus dem 16. Jahrhundert, und man kann bei schönem Wetter im Alexandergarten unter der Kremlmauer ein Schüppchen der Schlange bilden. die den mumifizierten Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, besuchen will.
Ich lege die knapp 500 Meter bis zur roten Granitgruft in zwei Stunden zurück, zwischen weißgekleideten Bräuten, übermütig albernden Jungpionieren und den ordenbehangenen Sendboten ferner Sowjetrepubliken. Am Gruft-Eingang erstirbt alle Munterkeit. Ich schließe auf polizeiliches Geheiß sämtliche Knöpfe meiner Jacke, tauche in das mit andächtiger Spannung erfüllte Halbdunkel, habe die Geruchs-Halluzination von Weihrauch und wäre nicht erstaunt, den Jubelschrei »Ich kann wieder gehen!« zu hören.
Gewiß hat der Einzeltourismus auch seine Nachteile. Daß auf dem Tisch, an dem ich zu Mittag esse, kein Fähnchen mit den Farben der Bundesrepublik steht, kann ich verschmerzen. Daß aber dieser Tisch sich in einem fensterlosen Saal befindet, der von ein paar elektrifizierten Riesen-Dauerlutschern weniger als notdürftig erhellt wird, während im Saal daneben, wo die Gruppenreisenden verköstigt werden, die Sonne durch viele Fenster scheint, ist bei mehrtägigem Aufenthalt ärgerlich.
Auch die Trinkgeldfrage, die sich dem einzelnen naturgemäß häufiger stellt als dem Kollektiv, kann zum Problem ausarten. »Das Geben und Nehmen von Trinkgeld ist untersagt«. warnt der »Polyglott«-Reiseführer und fährt fort: »Nimmt die Dienstleistung einen persönlichen Charakter an, so ist ein kleines Präsent angebracht.«
Wie eng oder weit man den Begriff Dienstleistung auch fassen mag, der persönliche Charakter ist dabei die Regel, nicht die Ausnahme, und was dem Erbringer einer Leistung als präsentabel gilt, weiß man spätestens am zweiten Tag: amerikanische Zigaretten und Parfüms der Marke »Christian Dior«. erhältlich nur gegen westliche Valuta in den »Berijoska«-Läden. Doch damit steht der arglose Spender schon hart an der Grenze zum Schwarzmarkt und sollte sein Wohltun spätestens dann einstellen, wenn ihm als »Gegenpräsente« zaristische Silberrubel oder hohe sowjetische Orden vor Augen gehalten werden.
Die Frage, auf die man innerhalb der UdSSR am seltensten Antwort erhält, heißt »warum«.
Warum sind die Haupteingänge von Hotels, Gaststätten und Kaufhäusern allesamt verriegelt, so daß sich Kommende und Gehende durch schmale Seitentüren quetschen müssen? Warum ist bei erkennbar hoher Qualität der Grundnahrungsmittel die Küche meistens miserabel und manchmal, wie aus Versehen, dreier Michelin-Sterne würdig? Warum muß man im Restaurant des Hotels »Intourist« am Moskauer Gorki-Boulevard allein für das Gedeck drei Rubel (nach offiziellem Kurs 10 Mark) bezahlen, von der räuberischen Devisen-Erpressung in den Nachtbars ganz zu schweigen? Vor allem aber: Warum wird man als Ausländer bis zur Peinlichkeit bevorzugt?
Leningrad. Sonnabendmittag, Newski-Prospekt. Hunderte von Wochenendlüsternen warten in dichter Reihe auf Taxis, die in unterschiedlichen Zeitabständen vorfahren, ein Menschenknäuel schlucken und unter den Flüchen der Zurückbleibenden davonpreschen. Meine Führerin Sandra. die mich mit entfernt wohnenden Freunden bekannt machen will, stürzt vor den Nasen der Anstehenden auf das nächste leere Taxi zu. wirft sich hinein und zieht mich, ehe ich protestieren kann, nach. Kein Fluchen, kein Murren. nicht einmal verdrossene Mienen. Der fremde Gast kommt zuerst. Dabei fände er es angenehmer, ihm würden Aufmerksamkeiten dort erwiesen, wo er sie erwartet und wo sie ihm kein Unbehagen verursachen.
»Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, konnten selber nicht freundlich sein«, entschuldigte sich Bert Brecht bei den Nachgeborenen. Gut. Doch so unfreundlich, wie das Gros des Hotelpersonals und besonders die Verkäuferinnen der »Berijoska«-Geschäfte mit einem verfahren, wird man in der übrigen Welt nur von Münchner Bierlokalkellnerinnen behandelt. Der ideale Tourist scheint in den Wunschträumen sowjetischer Fremdenverkehrsregler einer zu sein, der bucht, bezahlt und zu Hause bleibt.
Natürlich ist dieser Eindruck falsch. Im Gegensatz zur Münchner Kellnerin, deren rüdes Verhalten echter Fremdenverachtung entspringt, ist der russische Dienstleistende nicht aus Überzeugung oder mit Vorbedacht unfreundlich. Touristen. so weiß er, sind dazu da, um durch Absonderung frei konvertierbarer Währungen den Konsumgütermangel zu lindern, und bedürfen während dieses Vorgangs komplizierter Wartung und Pflege. Warum aber sollte man jedem zu wartenden Gegenstand, der da am Fließband vorüberzieht, ein Lächeln schenken?
Vielleicht können zuständige Stellen wenigstens dieses eine Warum beantworten; möglichst noch vor Beginn der XXII. Olympischen Sommerspiele.