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BÜCHER / NEU IN DEUTSCHLAND Bürgerlicher Klang

Franz Fühmann: »Der Jongleur im Kino oder Die Insel der Träume«. Luchterhand; 152 Seiten; 12,80 Mark.
aus DER SPIEGEL 14/1971

Nur einmal bietet DDR-Autor Franz Fühmann, 49, klassenbewußt die Alternative an: Als Zehnjähriger, so erinnert sich der Erzähler, trieb es ihn einst weg von Braten, Obst und Schokolade dorthin, »wo man sich schmutzig machen und mit Söhnen von Fabrikarbeitern und Hiluslern spielen« durfte. Sonst dringt kein Proletarier in die »trotz ihres schnöden Reichtums öde und kalte Bürgerwelt«, in der Fühmann stattfinden läßt, was der Untertitel zu seinem vierteiligen Erzählungszyklus mit etwas müder Ironie als »Studien zur bürgerlichen Gesellschaft« ausgibt.

In Wahrheit sind es politisch angelegte und angestrengt poetische Prosaetüden, die Erinnerungen an Szenen aus einer Kindheit in Böhmen während der zwanziger und dreißiger Jahre aufzeichnen: an die schemenhafte Großmutter, die unter dem Zwang einer Megäre von Mutter »ausgetrieben« wird; an einen im Namen christlicher Erziehung prügelnden und schindenden Kaplan; an eine Vater-, Autoritäts- und Honoratiorenfigur, wie sie allenfalls Kafka ertragen mußte, und schließlich an Onkel Eduard aus dem »Reich«, der nicht nur mit Haartolle und »würfelförmigem Bartstrang« die Attribute seines Führers ins böhmische Bürgerhaus trägt.

Gegen diesen saturierten Ordnungsmief suchte er sich, so erzählt der Erzähler, als Kind durch sensible Traumspiele von Prinzen, Indianern und Zauberern zu behaupten, Aber zum Tonio Kröger reicht's nicht. So wenig er sich als Knabe vom bürgerlichen Zwang befreien konnte, so schlecht gelingt es ihm als Erzähler, den bürgerlichen Klang zu vergessen: In der Luft ist »ein Gewoge von Amselschall«, ihr Blick ist »treuherzig wie eine Linde«, und endlich, zu viel, kommt ihn »auch noch ein Leid an«.

Fühmann beschreibt die Bürgergesellschaft mit dem stilistischen und psychologischen Aufwand der bürgerlichen Erzählung von einst, mit der seine schönen, traurigen Geschichten die hohe Bedeutungsschwangerschaft ebenso gemeinsam haben wie den gehobenen Zeigefinger. Der freilich weist nicht dogmensteif den Weg heraus aus der verhallten Klasse, sondern will im Gegenteil lehren, wie sie einen durch ihr Erziehungsmilieu einverleibt und jeden so kaputtmacht, wie sie selber schon kaputt ist.

Für einen Fall neuerer DDR-Prosa, auf den hiesige Literaturkriterien nicht schlankweg übertragbar sind, ist aber dies bemerkenswerter als der Einwand allzu kunstbeflissener Beredsamkelt.

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