THEATER / GATTI Caudillos Himmelfahrt
In seinem Dutzend Dramen wandeln Bekannte der Neuzeit -- der Doktor Goebbels, Jod Brand, die exekutierten Anarchisten Sacco und Vanzetti, der US-Präsident Johnson und der Minister McNamara.
Mit diesen Figuren belebt der Franzose Armand Gatti, 43, eine surreale Theaterlandschaft. Auf fremden Planeten und im Pentagon, in Konzentrationslagern und vor der Chinesischen Mauer tanzen Masken und Marionetten, reden Tote und Tiere, und ein sterbender Straßenkehrer, von Kugeln getroffen, erscheint in fünffacher Gestalt.
Ähnlich bizarrer Theaterzauber um einen spanischen Potentaten erwartet am kommenden Sonntag deutsche Theatergänger. Das Staatstheater Kassel bringt das Gatti-Drama »General Francos Leidenswege« zur Uraufführung -- ein Pendant zu Peter Weissens Salazar-Attacke »Gesang vom Lusitanischen Popanz«. Neben Sauriern und Christus-Doubles werden im Gatti-Stück auch eine sprechende Ziege und der heilige Franziskus (mit Stierkopf) auf die Bühne treten.
Der Gesang vom hispanischen Popanz« schon vor der Premiere als »vollständiges Bild der spanischen Realität« vom Pariser Kommunistenblatt »L'Humanité« gelobt, spielt allerdings nicht vor Ort: Franco und sein Land erscheinen in den Erinnerungen und Träumen von Exil-Spaniern und Gastarbeitern; die Hirn-Gespinste materialisieren sich zu Bühnenszenen.
In Paris, Moskau, Frankfurt und Havana erinnern sich die Vertriebenen an Hinrichtungen während des Bürgerkrieges, an Juwelensucht der Franco-Gattin Donna Carmen, und sie proben die Revolte der Exilpolitiker gegen das Franco-Regime in der Haut von Dino- und »Tyranosauriern«. Ein Streit über die Fortpflanzungsfähigkeit des »Franciscofrancosauriers« bringt die »demokratischen Urtiere« gegeneinander -- die ideologischen Differenzen münden in Prügelei.
Gleich grotesk gerät im Stück der Traum eines frommen Exil-Spaniers: Er halluziniert eine Modenschau bärtiger »Christus-Mannequins«, die vor Kirchenoberen eine von Franco entworfene Erlöser-Kollektion »für jeden Geschmack« vorführen.
Angeboten werden der »blaue Christus« (in einer Falange-Uniform), »der Christus des Sieges« (mit Edelsteinbehang), ein »Bauernchristus« (Ansager: »Der billigste Christus Europas") und ein »Christus der Geschäftswelt« ("Waschbar wie ein Paar Nylonstrümpfe").
Die Christus-Schau und der Vergleich des Generalissimus mit dem »mystischen Leib Christi« erklären die »Leidenswege« (Originaltitel: »La Passion du Général Franco") als satirisches Oberammergau. Freilich verteilt Gatti die Rollen neu: Franco figuriert als Perversion eines Erlösers, der nach Golgatha die anderen schickt -- sein Volk.
An die Seite des Volkes fühlte sich Gatti früh gedrängt. Sein Vater, ein Straßenkehrer in Monaco, fiel bei einem Streik von Polizistenhand -- Gatti hat ihm später im Drama »Das imaginäre Leben des Straßenkehrers Auguste G.« ein Epitaph geschrieben.
Auch Jünglings-Erlebnisse brachte Gatti dann auf die Bühne. Mit 18 war Gatti der französischen Résistance beigetreten und von der Gestapo in ein Arbeitslager bei Hamburg deportiert worden -- das KZ-Stück »Die zweite Existenz des Lagers Tatenberg« spiegelt die Tage hinter Stacheldraht.
Noch ehe Hochhuth und Kipphardt Archiv-Akten dramatisierten, hatte Gatti auch bereits eine Art Dokumentationstheater erfunden: 1961, in den »Berichten von einem provisorischen Planeten«, nahm er schon das »Stellvertreter«-Thema und Eichmanns Juden-Handel vorweg.
Gatti lieferte freilich nicht geschlossene Geschichten, sondern ein Polit-Panoptikum aus Tatsachen und lyrischen Einfällen, grotesken Verdrehungen und simplen Spruchweisheiten. »Das nackte Dokument«, so verteidigt Gatti seine Methode, »wäre nur ein toter Ausschnitt, kein Dokument mehr.« Bei Gatti eskaliert das Dokumentartheater zum Agitprop.
Das neue Franco-Stück, gleichfalls auf Dokumente gegründet, agitierte in Spanien schon vor der Premiere. Nach einer Lesung in Toulouse fertigten Spanier eine Übersetzung und ließen 2000 Exemplare in Spanien kursieren, ohne den Urheber zu fragen. Gatti: »Ich bin damit ganz einverstanden. Ich bin in ihren Kampf eingetreten.«
Die Kasseler hielten das Kampf-Stück ein Jahr lang zurück -- erst nach dem Studium von Spanien-Dokumenten gab Intendant Ulrich Brecht die Bühne frei: »Wir fanden jede Einzelheit bestätigt.«
Die historischen Details des Stückes soll das Publikum in dreieinhalb Stunden und 24 Bildern auch ohne Aktenkenntnisse begreifen. Regisseur Kai Braak deutet das verwickelte Werk auf vier Drehscheiben; auf einer zweiten (irrealen) Spielebene, die mit Spiegelfolie ausgelegt ist, bewegen sich rund hundert Charaktere.
Um Gattis Volk ohne Bühnen-Gastarbeiter zu rekrutieren, lud Braak einzelnen Schauspielern bis zu acht Rollen auf. Die Titelrolle brauchte er nicht zu besetzen: Der Caudillo wird durch eine luftgefüllte Gummi-Figur verkörpert, die auffährt in den Bühnenhimmel.