Chabrols nihilistische Revolte
Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von nihilistischen Anarchisten entführt in einem brutalen Handstreich aus einem mondänen Pariser Bordell den amerikanischen Botschafter, der eben in farbenprächtigem Dekor den Schleiertanz einer appetitlichen Hure goutiert.
Das Abenteuer endet auf einem idyllischen Bauernhof draußen vor der Stadt, wo die Entführer den Botschafter gefangenhalten. Eine Armee von Polizisten rückt kriegsmäßig durch wogende Kornfelder vor, angeführt von einem sadistischen Kommissar, der unter dem Druck der Regierung und seines Ehrgeizes zu Mitteln hemmungslosen Gegenterrors greift. Es kommt zu einem infernalischen Massaker, bei dem vier der Anarchisten und der Botschafter auf der Strecke bleiben.
Chabrol, der sich bislang vorzugsweise auf genüßliche Verhöhnung des Bürgertums beschränkt hat, meint es diesmal »politisch sehr ernst«. Die Filmgesellschaft, die »Nada« kostspielig produzierte, besteht freilich darauf, daß der ganze Film »ein Witz« sei.
Gegen »Nada«, wo Chabrol wie nie zuvor seine destruktiven wie ästhetischen Tendenzen gleichermaßen entfesselt, nehmen sich seine bösen und blutigen Bürgerdramen, die ihm seit der »Untreuen Frau« (1968) immer mehr Erfolg und Ansehen bei Publikum und Kritik eingebracht haben, fast harmlos aus. Eine Ausnahme war der »Schlachter« (1970), die eindringliche Studie eines still-verzweifelten Mörders und Liebenden: Chabrols Meisterwerk, zu dem sich jetzt »Nada« gleichrangig hinzugesellt.
»Blutige Hochzeit«, vergangenen Sonntag von der ARD ausgestrahlt, bildet, kurz vor »Nada« entstanden, Chabrols letzte Studie der »Prinzipien des Ehebruchs in der bürgerlichen Gesellschaft«, mit denen er sich in einer Vielzahl von Filmen beschäftigt hat. Die »Blutige Hochzeit« bot allerdings nur eine einfallsreiche, oft überstilisierte Variation, die mit den Neuerungen reizte, daß der Widerling und sein Gegenspieler Politiker, die Erotik ungenierter und die Farben noch raffinierter waren.
Ein Jahr vor diesem Film versuchte Chabrol »mal etwas richtig Lustiges«, wiederum nicht ohne Ehebruch und fiese Bürger selbstverständlich: »Doktor Popaul«, den die ARD nächsten Montag sendet. Dieser »Mordssspaß« und »Abstieg eines einst großen Regisseurs in die Niederungen des Vulgären« -- so französische Kritiker -- ist eine frivol-perverse Sexkomödie, in der Belmondo, von Beruf Arzt, hinter extrem häßlichen Mädchen her ist.
Er ehelicht eine verkrüppelte Reiche, die seiner Karriere dienlich ist. und nimmt gleichzeitig ihre Schwester. eine kurvenreiche Pin-up-Schöne. rabiat in Beschlag. Das geht nicht ohne ein paar fröhliche Morde und Mordversuche ab. am Ende aber ist die bürgerliche Groteskwelt wieder heil.
»Was mir gefällt, ist. unsere Gesellschaft so zu zeigen. wie sie ist, in kompletter Fäulnis. Doch da es eine recht komfortable Fäulnis ist, ist sie recht erheiternd zu filmen.« Getreu diesem Credo hat Chabrol seit 1968 in beispielloser Arbeitswut neun Filme gemacht.
Aber durch die Beschränkung aufs immer gleiche bourgeoise Milieu, dessen formale und emotionale Enge und Ordnung auch die Ausdrucksweise seiner Filme beengten, durch dieses manische Reflektieren seiner eigenen kaputten und frustrierten Welt, der des gehobenen Bürgertums, brachte sich Chabrol unausweichlich in eine Sackgasse. Im Alter von 43 Jahren ist Chabrol nun in dieser Gesellschaft an einem Punkt angelangt, wo er, jedenfalls als Filmemacher, an alles Lunte legen möchte: »Man muß einfach reinen Tisch machen. Ohne alle Umschweife.« Freilich: »Ich bekämpfe diese Gesellschaft und finde es gleichzeitig außerordentlich einfach, sich in sie zu integrieren. Ich glaubte, daß unsere Art der Zivilisation dem Ende entgegengehe. Das war eine Illusion. Jetzt sehe ich keine Lösung, deswegen beschäftigt mich die Zerstörung?
Chabrol ist zu der Überzeugung gekommen, daß man sich gegenwärtig als »bürgerlicher Intellektueller nur im Kreis bewegen kann« und sich »überall eine Verstärkung der extremen Rechten« abzeichnet. Deswegen »sage ich mir zum Beispiel im Augenblick: Wenn ich es mir überlege, ist der orthodoxe leninistische Marxismus nicht übler als anderes. Gehen wir also von ihm aus, ohne uns dabei Illusionen irgendwelcher Art zu machen. In Wirklichkeit ist unser Leben ein permanenter Wahnwitz, das darf man nie vergessen«.
Von einem seiner Söhne, dem er »Nada« vorführte, berichtet Chabrol: »Er war hinterher völlig durcheinander und meinte: »Ja, woran soll man denn noch glauben?« Ich habe ihm gesagt, das müßte er schon selber herausfinden, und wenn er es wüßte, sollte er es mir sagen. Das ist verdammt schwer.« »Nada« ist das spanische Wort für »nichts«.
Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman des 31jährigen französischen Schriftstellers Jean-Patrick Manchette, der auch am Drehbuch mitschrieb. Für Manchette, in seiner Jugend militanter Kommunist, jetzt erfolgreicher Krimi-Autor, ist dieser Terrorismus-Thriller »einfach das Produkt unserer Epoche und ihrer pittoresken Gewalt«.
Pittoresk, aber nicht unwahrscheinlich ist die Zusammensetzung von Manchette-Chabrols Gruppe »Nada«. Der Älteste, Epaulard, Techniker und Résistance-Veteran. ist ein »Kämpfer für alle verzweifelten Unternehmungen«, jetzt »müde und skeptisch« geworden. Er fällt bei dem Massaker auf dem Bauernhof, nachdem ihm dort das Anarchisten-Mädchen Cash einen letzten Beischlaf geschenkt hat, als erster. Als er mit einer weißen Fahne vor die Tür tritt, wird er von einem Polizei-Scharfschützen erschossen.
Die attraktive Cash« die in ihrem Schlafzimmer maoistische Literatur und eine Maschinenpistole hat, ist »vor allem aus Einsamkeit« dabei und bezeichnet sich gerne als »kleine Hure«. Geduldig kocht sie den ratlosen Männern Kaffee. Sie wehrt sich gegen die Polizei am verzweifeltsten und mutigsten und wird am brutalsten umgebracht.
Vor ihrem Tod bringt Chabrol eine symbolische Sequenz à la Peckinpah: Die Hasen, die Cash in den wenigen idyllischen Momenten des Films fütterte und liebkoste, werden von Maschinengewehrgarben in Petzen zerrissen.
D'Arcy, ein 25jähriger Trinker und Nihilist, kommt auf der Flucht in seinem Wagen um, der sich unter Schüssen überschlägt und in einem Kornfeld explodiert. Danach schwenkt die Kamera ins sattgelbe Getreide, und Chabrol widmet d'Arcy so etwas wie eine Gedenkminute voller pastoraler Stille.
Vorher hat d'Arcy im Suff einem seiner Mitstreiter eine Rede gehalten:
Das ist ein Intellektueller. Er wird sein Leben lang Scheiße fressen, danke sagen und bei den Wahlen sich der Stimme enthalten. Aber von den Scheißefressern hat die moderne Geschichte nichts. Ich trinke auf uns. Auf die Desperados. Und es ist mir scheißegal, ob ich politisch richtig oder falsch liege. Die moderne Geschichte hat uns hervorgebracht ... und das beweist, daß die Zivilisation so oder so ihrem Ende entgegengeht, und glaubt mir, lieber komme ich im Blut um als in der Scheiße.
D'Arcy, hinreißend dargestellt von dem Schauspieler Lou Castel, der 1972 wegen seiner linksextremen Aktivitäten aus Italien ausgewiesen wurde, ist ganz offensichtlich die Figur, für die Chabrol am meisten Sympathien hegt: »Lou ist so, wie er sich darstellt, er lebt so, das ist wichtig, bei dieser Rolle wird nicht gemogelt. Er ist völlig kaputt und zugleich der, der am intensivsten lebt. Ich glaube, daß der einzige positive Aspekt, den man in den augenblicklichen Verhältnissen finden kann, darin besteht, daß die Personen, die in diesem Leben positiv sein wollen, immer mehr verzweifeln.«
Kopf der Gruppe »Nada« ist Diaz Buennaventura, der Sohn eines spanischen Kommunisten, der während des Bürgerkriegs füsiliert wurde. Diaz ist der einzige wirklich »überzeugte Anarchist«, ein Professioneller und Draufgänger, der den Hinrichtungen auf dem Bauernhof entkommen kann, nicht ohne vorher noch den Botschafter abzuknallen.
Danach verfaßt er ein Manifest, das, so Chabrol, »ein Gemisch aus Zitaten von Bakunin und anderen Anarchisten« ist:
Ich habe mich geirrt. Der linke Terrorismus und der Staatsterrorismus sind, wenn ihre Beweggründe auch nicht vergleichbar sind, wie ein zusammenschnappendes Gebiß, eine prima Falle für besonders große Schwachkopfe. Natürlich mag der Staat den Terrorismus nicht, aber er ist ihm immerhin lieber als die Revolution ... Und deshalb wird der Desperado und Mörder ein gesellschaftlich konsumierbares Verhaltensmodell. Zwischen der Revolution und dem Tod hat der Staat seine Wahl getroffen, und er hofft, daß alle sich wie er entscheiden. Das ist die Falle, die man denen stellt, die sich auflehnen, und ich bin hineingelaufen. Und ich bin nicht der einzige. Und das finde ich ganz schön beschissen. Die Kritik des Terrors ist aber keine Verurteilung des Bürgerkriegs. Ein guter Bürgerkrieg ist mehr wert als ein fauler Friede.
Der schließlich letzte Überlebende der Gruppe »Nada«, der junge Philosophieprofessor Treuffais, hat sich kurz vor dem Überfall auf das Bordell von den Anarchisten abgesetzt. Treuffais, der Vorlesungen über Kant hält, wird gezeigt als ein einsamer, frustrierter Intellektueller, der seiner gespannten psychischen Situation Luft macht, indem er im Straßenverkehr Schimpfkanonaden losläßt und den Direktor seiner Universität verprügelt und anschreit: »Ihr Kopf ist voller Scheiße!«
Treuffais bleibt aber nicht erspart, von der Polizei besonders übel in die Mangel genommen zu werden. In seiner Wohnung spielt sich die melodramatisch-brutale Schlußszene des Films ab. Der Polizeichef, inzwischen vom Innenminister unter dem Druck der über das Massaker empörten Öffentlichkeit seines Postens enthoben, übt an dem Philosophieprofessor seine persönliche Rache. Plötzlich bricht der Spanier Diaz durchs Fenster herein, feuert mit einer abgesägten doppelläufigen Flinte eine volle Ladung ins Gesicht des Polizisten, der Diaz gleichzeitig mit mehreren Kugeln durchlöchert. Nach dem Blutbad ruft der Professor ungerührt eine Zeitung an: »Geben Sie mir einen Journalisten, ich möchte die Geschichte der Gruppe »Nada« erzählen.«
Chabrols Film »Nada«, der voller Verhöhnung und Verächtlichmachung des französischen Innenministers und überhaupt des herrschenden Staatswesens ist, ist ein makabrer Kino-Wahnwitz.
Bitterbös-komische Intermezzi ziehen sich neben frivolen Gangsterfilm- und ironischen Politfilm-Elementen durch den ganzen Film, der mit explosiver ästhetischer Brillanz und Virtuosität den Zuschauer geradezu überrollt. Befragt, ob diese formale Entfesselung, die »Nada« kennzeichnet, einen neuen Trend im Kino signalisieren könnte, sagt Chabrol: »Ja, und ich glaube, daß der Einfluß der Comics da von gewisser Bedeutung ist. Bei den Comics gibt es sehr kühne Möglichkeiten, mehr Möglichkeiten als beim traditionellen Film. Man kann mit allem spielen.«
Das sei aber nicht nur eine ästhetische Angelegenheit, sondern führe auch zu einem neuen Blick auf die Welt: »In dem Augenblick, in dem man die Form befreit, befreit man auch den Inhalt. Es ist nun viel leichter für Filmleute, extreme Gewalt darzustellen, ganz brutale Dinge zu machen. Die traditionelle Form des Films war ja immer, wie ich das gerne nenne, eine Art Aufpasser-Kino, eines der Vorsicht. Die Form einfach so zu sprengen, ist natürlich sehr gefährlich. Wir werden sicherlich noch sehr grausame Filme sehen, gewiß sehr schöne, aber auch abscheuliche.«