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Autoren China, wie es im Buche steht

aus DER SPIEGEL 46/1993

Wagner, 52, ist Professor für Sinologie an der Universität Heidelberg und veröffentlichte zuletzt einen Aufsatzband über zeitgenössische chinesische Prosa.

Der Pfropf ist ein kluger Kunstgriff des Gärtners, den vitaleren Saft eines Naturstamms in die verfeinerten Früchte seiner Züchtung zu leiten. Alle haben etwas davon, der Stamm darf weiterleben, das aufgepfropfte Früchtchen erhält kräftigere Nahrung, als seine eigenen Nachkommen liefern können, der Gärtner erhält ein verkäufliches Produkt, und der Feinschmecker erfreut sich am raffinierten Aroma der gleichwohl prallen Frucht.

Die deutsche Literatur pfropft viel und gern, meist auf griechischen oder hebräischen Stämmen, und in der Regel zur Befriedigung des Lesers. Der Rückgriff auf fremde und archaische Grammatiken, Rhetoriken und Metaphern belebt die Textur der eigenen Sprache. Die Neuerzählung alter Geschichten zehrt von der historischen und gedanklichen Tiefe des Originals.

In der jüngeren Vergangenheit besannen sich die besseren Autoren der DDR wie Heiner Müller, Stefan Heym, Christa Wolf oder Franz Fühmann wieder auf diesen Kunstgriff, den ihr Lehrer Brecht mit Chinesischem so schön vorexerziert hatte. Der Pfropf ist nicht nur einer des Stils, auch die Handlung und ihre Akteure sind gepfropft, haben schon einmal stattgefunden und gesprochen.

Tilman Spenglers Roman »Der Maler von Peking"* kommt als Pfropf ganz eigener Art daher. Der Roman lehnt sich an die Biographie Giuseppe Castigliones an, der im Auftrag der Societas Jesu 1714 nach China geschickt wurde und dort zum Maler im Hofatelier des Kaisers avancierte. Er galt als guter Pferdemaler und starb in hohem Alter.

Spengler stellt diesen Ausländer in das China des 18. Jahrhunderts - vor einen Hintergrund, in dem Geheimgesellschaften, _(* Tilman Spengler: »Der Maler von ) _(Peking«. Rowohlt Verlag, Reinbek; 208 ) _(Seiten; 36 Mark. ) Eunuchen, Hofintrigen, Spruchweisheiten und orientalische Amouren nicht fehlen. Der Leser, durch den Klappentext vorgewarnt, Spengler sei Sinologe und Historiker, weiß, daß er nicht ohne Risiko die Authentizität dieses Gemäldes in Frage stellt. Ein historischer Roman also, wie Gerd-Klaus Kaltenbrunner in der Welt am Sonntag versicherte, zu lesen, wie man Marguerite Yourcenars »Memoires d''Hadrien« liest.

Spenglers Sprache scheint sich dieser Lesart zu fügen. Sie klingt chinesisch, sie lehnt sich an die Übersetzungssprache an, die Sinologen und andere in den letzten hundert Jahren erfunden haben. Die chinesischen Figuren in seinem Roman reden gerade so, wie sie es dort tun. Sogar die albernen Spruchweisheiten, die nach Auskunft von Missionaren und Konsulswitwen in aller Chinesen Mund sind, werden als authentisch bestätigt.

Die etwas gezierte Sprache mit ihren verfremdeten Höflichkeiten und überdrehten lyrischen Einschüben bedarf offenbar auch in diesem postorientalistischen Zeitalter keiner Reform. Aber sind denn Sätze überhaupt noch erlaubt wie: »Mir scheint, unser heutiger Abend wird ganz und gar von Harmonie bestimmt sein«? Oder: »Die Sterne werden verblassen, ihr Licht verschenken wie der Morgentau seine Frische, wir aber werden lauschen den Zikaden und bewundern den Mond, den größten und geheimnisvollsten aller Kuppler«?

Den sinologischen Leser Spenglers packt spätestens hier der Argwohn über sein eigenes Lesevergnügen. Was da geschieht, ist so verdächtig ähnlich dem, was da geschehen sollte. Und das schlechte Gewissen der Sinologie will es, daß das, was da geschehen soll, die Chinaphantasien der Sinologen und ihrer Leser zwar treu abbildet, jedoch nur marginal mit der Kultur zu tun hat, in der stattzuhaben es behauptet.

Vielleicht ist der Stamm gar nicht die Geschichte der Begegnung zwischen Pekinger Höflingen und Angehörigen der Societas Jesu?

Verunsichert und dem ersten Impuls zur Beckmesserei folgend, stürzt sich der Sinolog in seine Bibliothek, um die Anschlußstellen zwischen Pfropf und Stamm zu prüfen. Er hat gelernt, daß der historische Roman seine Freiheiten hat, aber auch seine Regeln.

Castiglione muß im Roman nicht so heißen, aber sein Gegenstück muß so handeln, wie es möglich und wahrscheinlich gewesen wäre. Das Schwein aber im historischen Roman über China muß so schwarz sein wie das Huhn in dem über das Frankreich des 14. Jahrhunderts. Der historische Roman hat sich um einen authentischen kulturellen, historischen und philosophischen Kontext zu bemühen, sonst ist er keiner. Der Sinolog konzentriert sich also auf den Rahmen, nicht das Bild, auf die Marginalie, nicht die Haupthandlung.

In Spenglers chinesischer Küche wird doch wahrlich auf einem »Eichenbrett« gehäckselt. Triumph! Eichen sind in China fast unbekannt, die wenigen, die es gibt, werden nicht für diesen Zweck verwandt - die Gerbsäure im Holz würde noch die letzte Ente ungenießbar machen.

Unter Spenglers Obhut rottet sich im 18. Jahrhundert eine Geheimgesellschaft gegen die Ausländer und die Mandschus zusammen. Der junge Mann, der Mi-lan, die Tochter des Kunsthändlers, im klassischen Chinesisch unterrichtet, gehört dazu. Während das Zentrum der Geheimgesellschaft im Süden ist, kommt er »aus dem Nordwesten« und ist gleich »Sohn eines Stammesfürsten«, offenbar also ein Uigure, was seine Gesichtszüge bestätigen.

Nun gibt es nicht wenige solcher Vereinigungen im zentral- und südchinesischen Raum im 18. Jahrhundert. Von einer Vereinigung jedoch, die sich in dieser Zeit gegen die Mandschus und die (wenigen) Ausländer gleichzeitig gestellt hätte, wissen die Quellen nichts; daß sich Uiguren aus dem Nordwesten angeschlossen hätten, ist ganz unwahrscheinlich, und daß einer dieser Uiguren, der als Sohn des Stammesfürsten fraglos Moslem wäre und die Sprache seines Stammes spräche, sich in Peking als Lehrer in klassischer chinesischer Lyrik verdingen kann, grenzt an ein orientalisches Wunder.

In Sachen chinesischer Verdauung bringt Spenglers Roman die schöne und sprachkräftige Reflexion eines Jesuiten; dieser beklagt, daß die durch Einnahme von Rhabarber geförderte chinesische Verdauung auch noch das schwerste Mahl zum leichten Geschäft mache; darum bliebe den Chinesen der tiefe Zusammenhang zwischen Genuß und Leid ganz verborgen und es fehle damit auch an der rechten Bereitschaft, die strenge katholische Lehre anzunehmen. Der erste Schritt in der Missionierung des Landes müsse also das Abflammen chinesischer Rhabarberfelder sein.

Rhabarber spielt in der chinesischen Diätetik des 18. Jahrhunderts kaum eine Rolle, obwohl er in den nordchinesischen Provinzen in kleinem Umfang angebaut wurde. Im 18. und 19. Jahrhundert jedoch wurde die Konstipation zum Dauerleiden der zu Wohlstand gekommenen höheren Stände in England, und der aus China über Aleppo und Smyrna importierte, sogenannte türkische Rhabarber wurde umgekehrt zum Garanten britischer Verdauung.

Gerade dies schreibt hundert Jahre später, 1839, Lin Tse-hsü, der kaiserliche Sonderbotschafter in Kanton, in seinem empörten Brief an Queen Victoria. China brauche nichts vom Westen, am wenigsten das aus Indien eingeführte Opium, die Engländer hingegen könnten ohne chinesischen Rhabarber nicht einmal ihr tägliches Geschäft verrichten. Aus diesem Brief entsprang offenbar der Gedanke für die Roman-Szene.

Der Maler von Peking malt, und Spengler interpretiert seine Bilder. Spenglers junger Held kommt nach einer Liebesnacht mit der schönen Milan in das kaiserliche Studio und malt dort auf dem von ihm entwendeten seidenen Brusttuch Mi-lans ein Bild, welches leicht als das zweite in einer Serie von 16 Blumenbildern Castigliones zu identifizieren ist. Das Bild gilt der Bohne und der Hirse, zu sehen am rechten Rand.

Wie auch auf den anderen Blumenbildern wird die Szene durch Vögel belebt. Zwei von ihnen sind am Boden in einen spielerischen Kampf verwickelt, wobei einer mit ausgebreiteten Flügeln gerade nach hinten fällt und der andere sich über ihn stürzt. Solche Vogelbalgereien gelten unter Historikern als ein lange etabliertes Motiv für die Darstellung von Lebenslust.

Spengler liest das Ganze als frivole Metapher auf das Liebesspiel. Auch ihm ist klar, daß Meisen, wenn es denn solche sind, in der Regel beim Liebesspiel nicht die Missionarsstellung einnehmen - der eine Vogel hat »die Flügel wie empfangende Arme weit ausgebreitet, den Schwanz ein wenig angehoben, den Kopf leicht aufgerichtet, mit erwartungsvoll geöffnetem Schnabel«, der andere ist »fast im rechten Winkel über diesen ausgestreckten Leib gebeugt . . . der leicht geöffnete Schnabel spielt an der linken Brust«. Das ist eine originelle Lesung, aber ist sie historisch wahrscheinlich?

Kenner der ostasiatischen Kunstgeschichte verweisen darauf, daß in den vielen von Castiglione gemalten Bildern von Pferden und Hunden - und es müssen schon einige Hengste und Rüden darunter gewesen sein - das Geschlecht so radikal und offensichtlich fehlt, daß es sich entweder um Eunuchen im Tierreich handeln muß oder, was wahrscheinlicher ist, um Opfer einer vereinten chinesischjesuitischen Prüderie. Insofern ist das Hirse-Bohnenbild mit Meisen beim Liebesakt keine sehr wahrscheinliche Version.

Schließlich die Geschichte mit der Perspektive: Im Roman besteht der religiöse Auftrag des jungen Malers darin, die Zentralperspektive in die kaiserliche Malerei einzuführen und damit der Einsicht zum Durchbruch zu verhelfen, daß es nur eine Perspektive und entsprechend nur eine Wahrheit gebe. Unter allen Gründen, die zugunsten der Perspektivmalerei angeführt wurden, ist dieser nie genannt worden, und wenn sie irgend etwas tat, dann etablierte sie das Monopol des selbstbewußten Betrachters auf den richtigen Blick und unterminierte die eher göttliche Weltsicht der mittelalterlichen Malerei.

Auch hier ist Spenglers Hypothese historisch nicht wahrscheinlich. Kurzum, der Sinologe ruft erleichtert: »Hier handelt es sich wirklich nicht um einen historischen Roman über China - obwohl wir natürlich gern einmal einen solchen lesen würden.«

Der Roman überzeugt den Leser nicht durch die Dichte der historischen Darstellung, die Tiefe des Gedankens oder den Mut der Sprache. Er packt ihn vielmehr ironisch bei dem Wunsch, sich in die fremde Welt Chinas zu verlieren. Am Ende aber ist der Leser in einem China herumspaziert, welches, sprachlich und inhaltlich, die Inneneinrichtung seiner eigenen Chinoiserie ist.

Lazzos Reise nach China wird zu der des Lesers durch dieses Buch. Der äfft bei der Lektüre Lazzos chinesische Sozialisation durch seinen braven Irrglauben nach, China sei gerade so, wie es im Buche steht. Y

* Tilman Spengler: »Der Maler von Peking«. Rowohlt Verlag, Reinbek;208 Seiten; 36 Mark.

Rudolf G. Wagner

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