FILM /ZEICHENTRICK Computer und Ikonen
Ist Mickey Mouse tot? Hat sich der Enten-Wüterich Donald Duck endlich ausgeplärrt, der animierte Cartoon amerikanischer Prägung schließlich doch überlebt?
Walt Disneys Erben im Geiste, die Zeichentrickfilmer aller Länder, organisiert im Internationalen Verband des Animationsfilms (Asifa), behaupten es und versuchen es seit Jahren immer wieder aufs neue zu beweisen
mit neuen Ideen und neuen Techniken, die sie auf immer neuen Musterschauen und Kongressen vorführen.
Sie haben ein Zeichentrickfilm-Festival im südfranzösischen Annecy (letztes Treffen 1967, nächstes: Juni 1971) und ein weiteres im rumänischen Mamaia am Schwarzen Meer, das 1968 und 197(1 stattfand. Sie werden demnächst eines in Zagreb haben.
lind selbstverständlich gewähren ihnen auch die kinolustigen Italiener, die jeden Monat im Jahr (sei es in Bergamo, Venedig, Bordighera, Triest. Salerno, Lucca oder Alassiol das eine oder andere Filmfest feiern, freudig Asyl -- so in der Stadt Busto Arsizio bei Mailand (Oktober 1969, Oktober 1970), so auch im norditalienischen Badeort Abano Terme bei Padua (Spezialität: Schlammkuren): Dort traf sich vorletzte Woche der internationale Set der Animationsfilmer zu einer fünf Tage währenden Zeichentrickfilm-Parade mit dem Titel: Cinema Incontri (deutsch: Filmbegegnungen).
Aufgeboten war eine gute Hundertschaft von Produzenten, Regisseuren. Szenaristen und Animatoren aus Frankreich, England, Ungarn, Polen, Rumänien, Italien, Jugoslawien und der Sowjet-Union. Selbst die Bundesrepublik, in der das Experiment mit dem landeseigenen Zeichentrickfilm kaum geschätzt und auch kaum (beispielsweise von den Fernsehanstalten) gefördert wird, war vertreten: Der Münchner Curt Linda präsentierte seinen Abendfüller »Die Konferenz der Tiere« nach dem Kinderbuch von Erich Kästner.
Abano bot: eine Retrospektive auf das polnische Animationskino; einen Überblick über den zeitgenössischen Zeichentrickfilm für Kinder; eine Huldigung an den aus Rußland stammenden französischen Allmeister Alexandre Alexeieff, der 1933 für seine »Nacht auf dem kahlen Berge eine verblüffend expressive Nadelwand-Technik erfand.
Vor allem jedoch bot Abano mit seinen weit über 100 (meist kurzen) Filmen ein kunterbuntes Panorama jüngster Produktionen aus Ost und West -- eine Vielfalt von Stilen. die sich in der Tat weit vom Disneyland entfernt haben.
Diesen modernen Märchen, diesen graphischen Witzen, diesen zeichnerischen Spielen mit Buchstaben fehlte es ganz entschieden an der Harmlosigkeit eines Goofy oder Popeye, eines Feuerstein und Geröllheimer, von den deutschen Mainzelmännchen ganz zu schweigen.
Und der genre-übliche Witz, sarkastisch und bösartig genug, war nicht einmal immer im Spiel: Zur wild wogenden Musik von Rimski-Korsakow malte beispielsweise der Russe Iwanow-Wano in der »Schlacht von Kierzynce« einen farbenprächtigen Mongolensturm auf die Leinwand, und seine Figuren vor einem mit Krakeluren überzogenen Hintergrund wirkten wie in Bewegung geratene Ikonen.
Der Amerikaner Goldman zeigte einen psychedelisch zerflackerten Michelangelo-Adam; der Finne Suo-Antilla einen mörderischen Kampf zwischen verstaubten Morandi-Flaschen; der Italiener Manfredi ein brutal-faschistisches Comic-strip-Gemetzel ("Die Wölfe und die Engel"); der Rumäne Petringenaru setzte naive Hinterglasmalerei in geruhsame Teil· Bewegung.
Zu sehen waren neben den altbekannten Strichmännchen und allerlei klassischem Getier kunstvolle Collagen, waren schmelzende, zerfließende Farben, war klassische Animation plus realistischer Photoeinblendung, waren gepinselte und gespachtelte Maltrickfilme, war Pop-Artistik und sogar Computer-Animation: das vom Trickfilmer vorprogrammierte, sodann vom Roboter In allen Bewegungsphasen gezeichnete Striche-Ballett.
Curt Linda aus München hat schon recht. »Der Animationsfilm«, sagt er. »ist auf weite Zukunft hin viel entwicklungsfähiger als der Spielfilm, der seine Impulse heutzutage nur noch durch den Stoff erfährt, der Zeichentrickfilm hingegen durch immer neue Formen.«
Madame Françoise Jaubert aus Kanada jedoch, Vorsitzende der Asifa, bleibt skeptisch: »Die Lage ist nicht gerade erfreulich. Wir arbeiten hart, aber die Werbung reicht nicht aus: Zu viele Leute kennen nicht die ungeheuren Möglichkeiten des Zeichentrickfilms als Ausdrucksmittel, als Sprache, als Instrument künstlerischen Schaffens.«
Freilich, Madame Jaubert spricht offensichtlich nur für den Westen. In den staatlichen Studios in Dresden, Prag, Zagreb, Sofia, Warschau, Krakau und Lodz, die im Durchschnitt mit 300 Zeichentrickfilmern besetzt sind, ist die Lage schon viel besser. Der östliche Animationsfilm ist ein guter Exportartikel -- die »Cinema Incontri« zu Abana Terme haben es erneut bewiesen.
Dennoch fanden auch da die schönsten, die geglücktesten Experimente, ob aus Ost oder West, nicht ihre volle Würdigung. Denn schließlich erreichte erst ein Rückblick auf die alten, guten. ultranaiven amerikanischen Cartoons aus den Jahren 1909 bis 1938, der in Abano gleichfalls offeriert wurde, die höchsten Phonzahlen, und zwar bei Laien wie Experten:
Wenn »Gertie der Dinosaurier« oder »Flip the Frog« von Ub Iwerks, dem berühmtesten aller Walt-Disney-Mitarbeiter, auf der Leinwand erschien, durfte endlich von Herzen gelacht werden.
Mickey Mouse, so scheint es, ist noch lange nicht tot.