Theatermacher Milo Rau "Die deutsche Demokratie ist aktuell unerschütterlich"

Der Regisseur Milo Rau hat vor drei Jahren im Rahmen einer Theateraktion in Berlin einen "Sturm auf den Reichstag" inszeniert und befürchtet, eine Vorlage geliefert zu haben. Was denkt er über Demonstranten auf der Treppe des Parlamentsgebäudes?
Ein Interview von Wolfgang Höbel
Treppe des Berliner Reichstagsgebäudes am 29. August

Treppe des Berliner Reichstagsgebäudes am 29. August

Foto: NurPhoto / Getty Images
Zur Person
Foto: Sabine Gudath / imago images

Milo Rau, 43, ist Schweizer und ein herausragender Regisseur und Politaktivist im europäischen Theaterbetrieb. Seit 2018 leitet er als Intendant das Stadttheater im belgischen Gent. Rau geht mit seiner Kunst dorthin, wo es weh tut. Seine Stücke handelten von Pussy Riot, afrikanischen Warlords oder dem Kindermörder Marc Dutroux. Beim Filmfestival in Venedig präsentiert Rau die Uraufführung des Dokumentarfilms "Das Neue Evangelium" ; in der Berliner Schaubühne läuft von Oktober an sein Ein-Personen-Stück "Everywoman".

SPIEGEL: Herr Rau, wie hat die Aktion von teilweise rechtsgerichteten Demonstranten vor dem Reichstag am Wochenende auf Sie gewirkt? 

Rau: Die bildpolitische Wirkung ist enorm. Der Imageschaden, der für die deutsche Demokratie durch diese Protestierenden mit Reichsflaggen vor dem Bundestag entsteht, ist exponentiell größer als der reale Vorgang. Das ist immer so bei solchen Bildern. Ich lebe und arbeite in Belgien, hier haben viele diese Aufnahmen gesehen und denken nun, die Nazis hätten den Reichstag gestürmt. Dass das eine sehr beschränkte Aktion von ein paar Wirrköpfen ist, sieht man nicht. Die Bilder sehen ja total toll aus.

SPIEGEL: Sie selbst haben im Rahmen Ihrer Theateraktion "General Assembly" im November 2017 mit Abgesandten aus vielen Ländern der Welt in der Berliner Schaubühne über die internationalen Auswirkungen deutscher Politik diskutiert und am Ende einige Mitglieder Ihres "Weltparlaments" einen symbolischen "Sturm auf den Reichstag" auf der Wiese vor dem Gebäude vollführen lassen. Inwiefern sehen Sie Parallelen?

Rau: Der Angriff dieser Menschen vor ein paar Tagen ist das Gegenteil von dem "Sturm auf den Reichstag", den wir inszeniert haben. Unser "Sturm" hatte das gegenteilige Anliegen.

SPIEGEL: Welches genau?

Rau: Wir waren und sind davon überzeugt, dass man die Demokratie erweitern, nicht dass man sie abschaffen muss. Unserer Ansicht nach müssen alle Stimmen im Bundestag vertreten sein, die von den Entscheidungen des deutschen Bundestags betroffen sind. Deshalb sind bei unserem Sturm auf den Reichstag Leute aus der ganzen Welt dabei gewesen, übrigens auch sieben Abgeordnete aus dem Bundestag selbst. Man muss die deutsche Demokratie aufpumpen und lebendig machen. Im jetzigen Zustand ist sie unvollständig.

Theateraktion "Sturm auf den Reichstag" 2017

Theateraktion "Sturm auf den Reichstag" 2017

Foto: Michael Kappeler / picture alliance / dpa

SPIEGEL: Für wie gefährlich halten Sie das, was am Wochenende in Berlin zu sehen war?

Rau: Man sollte das nicht zu ernst nehmen. Klar, man kann den Angriff, der da zu sehen war, nicht einfach hinnehmen und muss reagieren. Aber mir scheint dieser angebliche Sturm auf den Reichstag nicht mehr als ein pseudopolitisches Psychodrama zu sein. Nein, wir sollten jetzt nicht so tun, als hätten wir Weimarer Zustände und morgen brennt der Reichstag. Da agiert keine organisierte Avantgarde des Faschismus, das sind aggressive Kleinbürger, die sich in umstürzlerischen Fantasierollen betätigen. Man hätte sie rein und an ihrer eigenen Ideenlosigkeit verzweifeln lassen sollen.

SPIEGEL: Warum hielten Sie es für einen Fehler, mit allzu großer Aufregung und politischen Konsequenzen auf die Aktion der teils rechtsextremen Demonstranten zu reagieren?

Rau: Weil sich dadurch, fürchte ich, die Anhängerschaft der Rechtsextremen multiplizieren würde. Das ist ja immer ihr Trick gewesen: Sie wollen einen Antagonismus herstellen, wollen beweisen, dass der Staat mit Gewalt reagiert und seine angebliche Terrorfratze zeigt. Darauf darf man sich nicht einlassen. Ich lehne es ab, als Linker als Echoraum für diesen Nonsens zu fungieren. Wenn es Rechtsverstöße gibt, dann müssen sie geahndet werden, fertig.

SPIEGEL: Das sehen Sie ganz kühl?

Rau: Es gehört zu einer Ausnahmesituation wie der gegenwärtigen, dass Menschen ab und zu ihr Wutventil öffnen. Da hat sich viel angestaut, das haben die jetzt rausgelassen. Jetzt fallen sie zurück in Lethargie, gucken sich die Filmchen vom "Sturm" an und trinken Bier. Und dann erwacht in ein paar Wochen wieder ihre Zerstörungslust.

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SPIEGEL: Spricht es Ihrer Ansicht nach für die Wehrhaftigkeit der deutschen Demokratie, dass sie es sich offenbar leisten kann, nur drei Polizisten vor das Parlament zu stellen und Staatsgebäude nicht wie in anderen Ländern weiträumig abzuriegeln?

Rau: Die deutsche Demokratie ist im Vergleich zu anderen Ländern in Europa aktuell unerschütterlich. Aber für mich als Beobachter aus Belgien ist es trotzdem schwer zu verstehen, warum man in Deutschland für die Auflösung eines Konzerts oder die Räumung einer Bar ein sehr viel größeres Polizeiaufgebot antreten lässt als für den Schutz des Bundestags während so einer Demo. Der Angriff der Reichstagsstürmer vom Wochenende war ja schon Tage im Vorfeld angekündigt, sogar ich hatte das über Kanäle gehört, dass es Pläne für so eine symbolische Aktion gibt. 

SPIEGEL: Die Politiker und die Polizei hätten Ihrer Meinung nach vorher Bescheid wissen können?

Rau: Auch wir waren längst nicht die Ersten, die diese Idee hatten. Der Reichstag ist immer wieder Projektionsfläche für Demonstrationen, Flaggenschwenker und Manifestschreiber. Lustigerweise haben wir 2017 bei unserem "Sturm auf den Reichstag" den damals vor dem Gebäude stehenden Informationsstand der "Reichsbürger" umgerannt. Vielleicht kam ihnen da die Idee, das auch mal zu machen. Jedenfalls war die Zertrümmerung ihres rechtsradikalen Infostands der einzige kleine Rechtsfall, den wir hinterher an der Backe hatten.

SPIEGEL: Gibt es in Belgien, wo Sie arbeiten, ähnliche Proteste von Corona-Maßnahmen-Verweigerern ? 

Rau: Nein. Das rechtsradikale Kleinbürgertum wie in Deutschland, das sich ja mit allen Formen wirrer Systemkritik mischt, gibt es in Belgien in dieser Form nicht. Das liegt daran, dass letztlich der Staat weniger gut funktioniert. Wenn die Feuerwehr sehr gut ist, dann brennt es nicht - also denken die Leute, es gibt gar kein Feuer und man braucht auch die Feuerwehr nicht. In Belgien brennt es dagegen die ganze Zeit, seit dem Beginn von Corona herrscht hier das komplette Chaos. Das hat auch mit Infiziertenzahlen zu tun. Wenn man sich selbst vor den Gefahren einer Pandemie weitgehend geschützt fühlt wie in Deutschland, dann zweifeln die Menschen an der Realität der Gefahr.  

SPIEGEL: Wie beschäftigen Sie sich in Ihrer Arbeit mit der Pandemiesituation? 

Rau: Die Losung unserer neuen Spielzeit heißt "Back to the normal would be a crime". Ich finde, ein Zurück zur Normalität wäre ein Verbrechen, weil man gesehen hat, wohin uns die Normalität bringt, was für Monster sie geschaffen hat. Diese Pandemie ist ja nur eine Nebenwirkung, die eigentliche Krankheit ist unser gesamtes System. Die große Erfahrung für mich aus Corona ist eigentlich eine metaphysische.

SPIEGEL: Wie meinen Sie das?

Rau: Wir können nicht mehr damit umgehen, dass irgendjemand aus unserer Mitte stirbt, weil wir nicht nur denken, dass wir ihn verlieren, sondern weil wir denken, dass er verloren ist. Davon handelte auch mein Stück "Everywoman" an den Salzburger Festspielen: Wir sind eine Gesellschaft ohne Transzendenz, ohne Boden. Das spüren im Endeffekt auch diese zornigen Spießer, die wir vor dem Reichstag gesehen haben. Sie wollen ins Innere der Institutionen vordringen, als gäbe es dort irgendeine Verschwörung in einem Hinterzimmer, einen Mechanismus, einen Weltgeist in Gestalt eines Schachspielers wie bei Walter Benjamin. Aber sie werden den Schachspieler nicht finden. Weil es ihn nicht gibt. 

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