Warum sind Teeküchen weniger problematisch als Skilifte? Nicht jede Maßnahme zur Pandemiebekämpfung erschließt sich sofort. Die Regierung muss ihre Entscheidungen endlich besser begründen.
In einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur waren vor Beschluss der neuen Corona-Maßnahmen 41 Prozent der Befragten für eine unveränderte Beibehaltung, weitere 24 Prozent sogar für eine Verschärfung. Zwei Drittel waren also dafür, die Einschränkungen mindestens so streng wie bisher über den 10. Januar hinaus fortzuführen.
Ich gehöre recht emotionslos zu dieser Gruppe, bin dabei aber frustriert über mein eigenes Unverständnis bezüglich der langfristigen Strategie, die über den Januar hinausgeht. Das ist keine Skepsis als Pose oder in Naivität getarnte Kritik, sondern, im Gegenteil, die Neugier einer Ignorantin, die es verstehen will.
Ich würde zum Beispiel gern diesen 15-Kilometer-Radius ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 200 verstehen. Warum 15, warum nicht fünf oder zwanzig? Ich habe kein Problem mit 15, ich habe keine Kritik an 15, ich habe keinen besseren Vorschlag als 15, alles, was ich habe, ist: keine Ahnung.
Klar, es geht um Kontaktreduktion, und ja, es geht darum, die entfesselten Skitouristen und SchneefluencerInnen wieder einzufangen. Aber gleichzeitig dürfen ArbeitgeberInnen weiterhin ihre MitarbeiterInnen ins Büro bestellen, weshalb diese im öffentlichen Nahverkehr durch die Gegend fahren. Wenn man die potenziellen Infektionen tatsächlich konsequent eindämmen möchte, müsste man dann nicht langsam vielleicht doch mal die Out-of-Home-Offices schließen, wie auch die Berliner Grünenpolitikerin Laura Sophie Dornheim in ihrem Gastbeitrag für den »Tagesspiegel« fordert? Weil man ja durchaus annehmen könnte, dass die Teeküche auch nicht unproblematischer ist als ein Skilift?
Eine weitere Anordnung, die Stirnrunzeln auslöst: Von nun an darf nicht mehr ein Hausstand einen anderen treffen, sondern es sind nur noch Treffen mit maximal einer Person eines anderen Hausstands gestattet. Ich dürfte also vormittags mit meinem Freund und seinem besten Freund spazieren gehen, nachmittags dann mit dessen Frau; beide gleichzeitig als Paar dürften wir nicht treffen – auch wenn es epidemiologisch auf das Gleiche hinausläuft. Auch hier: Ich verstehe den Geist hinter den Maßnahmen, die Reduktion von Kontakten, aber nicht die Umsetzung, wenn dabei nicht zwangsläufig die Anzahl von Kontakten reduziert wird.
Pandemiemüde Kommunikationspolitik
Zu all dieser lakonischen Ratlosigkeit über einen Pflichtkatalog, der eher im Ungefähren operiert und im Symbolischen wirkt, kommt folgende Hilflosigkeit: Die Entscheidung zur Verschärfung erfolgte auf Grundlage einer Datenlage, die erst noch ausgewertet werden muss. Über die Feiertage wurden schlicht weniger Tests gemacht und weniger Zahlen von den Gesundheitsämtern geliefert. Es wird also gerade maßnahmentechnisch mehr improvisiert als im gesamten Pixar-Jazz-Film »Soul«.
Genau diese Datenlücke wäre aber nur ein weiterer Grund, nicht nur das »Wie«, sondern auch das »Warum« verständlich zu machen – und daran hakt es. Die Kommunikationspolitik der Regierung hat sich im Vergleich zum Frühjahr verändert, um nicht zu sagen: verschlechtert. Sie wirkt irgendwie pandemiemüde, vielleicht auch von den ganzen Glühweinstandapologien.
Hinzu kommt, dass das Geschehen komplexer und kleinteiliger geworden ist. Und es gibt große Unterschiede zwischen dem Aufwand, den PolitikerInnen betreiben, um zu Entscheidungen zu gelangen, und dem Aufwand, den BürgerInnen diese Entscheidungen zu erklären.
Politische Akteure befinden sich im beständigen Prozess der Entscheidungsfindung, sie befinden sich dauernd in Beratungen und interdisziplinären Dialogen. Im Gegensatz dazu bekommen wir letztlich alle paar Tage oder Wochen – nach Phasen institutioneller Abwarte-Stagnation – einen irgendwie situationsbedingten und saisonalen Vorschlag präsentiert – ohne dass wir die Erkenntnisprozesse nachvollziehen können. Es ist ein bisschen wie in Douglas Adams' »Per Anhalter durch die Galaxis«, wo ein Supercomputer die Frage »nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest« nach Millionen Jahren Rechenzeit schlicht mit »42« beantwortet.
Nicht aus Ethnozentrismus Ideen ausblenden
Man erklärt, warum Maßnahmen fortgesetzt werden (»weil die Zahlen schlecht sind«), aber nicht genauer, warum ausgerechnet genau diese Maßnahmen überhaupt ein- und umgesetzt werden. Und je länger wir uns dabei so von Monat zu Monat und von Lockdown zu Lockdown hangeln, desto mehr fragt man sich, wie es sein kann, dass in zehn Monaten keine besseren, smarteren, punktuell genaueren Lösungsansätze verhandelt wurden, während inzwischen mindestens 37.607 Menschen gestorben sind.
Und mal abgesehen von den Maßnahmen – wo passiert gerade die viel beschworene Innovation, die uns ja bekanntlich gegen den Klimawandel helfen wird? Was ist mit Luftfiltern an den Schulen? Warum impfen die Impfzentren nicht bald schon 24/7 rund um die Uhr – also wenn der Impfstoff mal da ist – so wie das in Israel gemacht wird? Warum testen wir nicht viel, viel mehr? Und wenn das zu teuer ist: Was ist mit Pool-Testing, wie es zum Beispiel erfolgreich in Ruanda umgesetzt wird, wo ein Algorithmus das gleichzeitige Testen von 20 Personen ermöglicht. Die Idee dazu kam von Wilfred Ndifon, einem mathematischen Epidemiologen und Forschungsdirektor des African Institute for Mathematical Sciences (AIMS), der zusammen mit Leon Mutesa, einem Experimentalphysiker vom Gesundheitsministerium, beauftragt wurde, dieses Problem zu lösen.
Überhaupt zeugt der panafrikanische Umgang aufgrund von Erfahrungswerten mit Ebola und anderen Epidemien von einer zielgenaueren Vorbereitung und von einer innovativeren Pragmatik. Die sollte man unbedingt in die Überlegungen für effizientere Lösungen einbeziehen und nicht aufgrund eines falschen Ethnozentrismus ausblenden. (Gut, zumindest im Ausblenden, wie im Falle der Strategien südostasiatischer Länder, sind wir schon recht erfolgreich.)
Die Chance, aus Befürwortern Vermittler zu machen
Ich freue mich wirklich und ganz unironisch auf die Beantwortung der Fragen in den Kommentaren unter diesem Text. Aber auch diese Erwartung ist Teil des Problems: Man sollte diese basalen Sachverhalte der gegenwärtigen Maßnahmen nicht von aufopferungsvollen Menschen im Internet erklärt bekommen, sondern von der Regierung.
Und auch wenn VirologInnen und WissenschaftsjournalistInnen großartig und unermüdlich derartige Informationen veranschaulichen, vertonen und vertexten, erhoffe ich mir, dass vor allem die Instanz, die die politischen Entscheidungen trifft, diese auch nachvollziehbar macht.
Die Regierung hat bislang die Chance vertan, die vielen Maßnahmen-BefürworterInnen zu Verteidigern und Vermittlern dieser Maßnahmen zu machen. Die notwendige Überzeugungsarbeit findet schließlich auch in Familien, in Freundeskreisen, bei den KollegInnen statt; und sei es nur dadurch, dass man das eigene Verhalten logisch erklären kann, um mit gutem Beispiel voranzugehen.
Wenn ich die Wahl der Mittel durchdringe, kann ich diese auch anderen vermitteln. So entstünden für die Pandemie existenzielle Gruppendynamiken: Maßnahmen lassen sich besser durchhalten, wenn alle erkennen, dass man sinnhaft handelt. Weg von der reinen Einzelverantwortungsansprache, hin zu einer kollektiv begriffenen Kooperation, die dann wieder in proaktive Selbstverantwortung münden kann.
Ich frage und klage nicht aus Besserwisserei, sondern weil ich es besser wissen möchte.