
Gleichberechtigung und Corona Frauen sind systemrelevant, aber das System ist kaputt


Krankenschwester mit Patient (Symbolbild): Neben Homeoffice und Homeschooling auch noch Home-Riot?
Foto:Christian Charisius/ DPA
Inzwischen dürften einige Menschen verstanden haben, dass sehr viele der sogenannten systemrelevanten Berufe von Frauen ausgeübt werden : knapp 60 Prozent insgesamt . Die allermeisten Pflege- und Betreuungskräfte sind weiblich, ebenso die allermeisten Beschäftigten im Einzelhandel, viele Reinigungskräfte. Jetzt fällt vielen außerdem auf, dass es nun häufig Frauen sind, die ihre Lohnarbeit herunterfahren und irgendwie mit Kinderbetreuung zusammenbringen müssen.
Die Schlüsse, die aus diesen Beobachtungen gezogen werden, sind aber ganz unterschiedlich. Ziemlich verbreitet ist die Annahme, dass die Gleichberechtigung durch die Coronakrise um Jahrzehnte zurückgeworfen wird, und dabei wird international nicht mit Katastrophenszenarien gegeizt. Im "The Atlantic" hieß es, das Coronavirus sei ein Desaster für den Feminismus , die Pandemie vergrößere alle bestehenden Ungleichheiten. Der österreichische "Standard" schrieb, Feminismus stehe "auf dem Abstellgleis" . Im Schweizer "Magazin" hieß es: "Corona ist eine Katastrophe für den Feminismus" .
Zeitreisen sind zum Glück nicht möglich
In der Sendung von Anne Will sagte die Soziologin Jutta Allmendinger: "Die Frauen werden eine entsetzliche Retraditionalisierung weiter erfahren. Ich glaube nicht, dass man das so einfach wieder aufholen kann und dass wir von daher bestimmt drei Jahrzehnte verlieren." Die Frauen, erklärte sie, "werden wieder so richtig die Heimmütterchen".
Drei Jahrzehnte zurück, das klingt nicht gut, da wären wir bei 1990, als etwa Vergewaltigung in der Ehe noch keine Straftat war. Allerdings sind Zeitreisen zum Glück immer noch nicht möglich. Auf den ersten Blick sieht es für Frauen und für die Gleichberechtigung zugegebenermaßen im Moment tatsächlich richtig schlecht aus. Frauen verlieren nicht nur die Nerven, sie sind nach Schätzungen von Experten vermehrt häuslicher Gewalt ausgesetzt, und Abtreibungen durchzuführen, ist sehr schwierig geworden. Und sie haben neben all der Familien- und Erwerbsarbeit nicht auch noch Zeit, zu protestieren. Streiken wäre gerade etwas krass, und zu alldem weiß man auch noch aus Studien zu anderen Epidemien, dass sie Frauen langfristig wirtschaftlich stärker schaden als Männern.
Ist es also nur folgerichtig anzunehmen, dass es durch die Corona-Pandemie mit der Gleichberechtigung und dem Feminismus jetzt erst mal so richtig bergab gehen wird? Nicht unbedingt.
Ich neige zwar insgesamt nicht besonders zu Optimismus, schätze aber die heilsame Kraft der Radikalisierung von diskriminierten Minderheiten. Heilsam nicht in einem esoterischen Sinne, dass jede Krise eine Chance ist, sondern heilsam in dem Sinne, dass Menschen sich ihrer wahren Bedeutung und ihrer Kräfte bewusst werden sowie der Lasten, die sie zu tragen haben.
Die Relevanz von Kämpfen wird sichtbarer
Ich glaube, dass die Annahme falsch ist, eine soziale Bewegung würde automatisch geschwächt, wenn ihre Beteiligten eine besonders harte Zeit erleben und/oder die Diskriminierten, für die diese Bewegung kämpft, durch eine Ausnahmesituation ihre schon vorher bestehende Benachteiligung ganz besonders zu spüren bekommen. Warum sollte das so sein? Die Relevanz dieser Kämpfe wird umso sichtbarer.
Es kann zwar sein, dass die vorher schon zur Bewegung gehörenden Menschen erst mal ihre Kräfte wieder sammeln müssen, es kann aber auch sein, dass neue Menschen hinzukommen, weil sie merken: Ach du Scheiße, viel zu tun. Die Ungleichheiten, die jetzt sichtbarer werden, waren vorher schon da. Die Arbeit von Frauen ist systemrelevant, aber das System muss nicht so bleiben, wie es ist.
"Es gehört zum Mechanismus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu verbieten", schrieb Theodor W. Adorno. Die Erkenntnis des Leidens, das eine Gesellschaft produziert, die die Arbeit von Frauen nicht richtig wertschätzt und bezahlt, liegt aber jetzt sehr offen zutage.
Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.
Antonia Baum hat das in ihrem Text "Hannelore radikalisiert sich" perfekt beschrieben. Sie erzählt von einem Paar, das durch Corona in sehr alte Rollenmuster zurückfällt. Weil vor Corona auch schon nicht alles gleichberechtigt war, "saßen in der Expertengruppe, die die Bundesregierung in ihrer Corona-Politik beriet, 24 Männer und nur zwei Frauen (Durchschnittsalter 60 Jahre), die sich nichts anderes vorgestellt haben als das Hannelore-Wolfgang-Modell." Und Hannelore stellt fest: "Die Frauen krabbeln unsichtbar auf dem Boden dieser Krise beziehungsweise Deutschlands herum, wo sie schlecht oder gar nicht bezahlte Arbeit machen, (...) und die Männer reden darüber, unter welchen Bedingungen gekrabbelt wird."
In einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung heißt es, "von den Elternpaaren, die sich die Erziehungsarbeit zuvor ungefähr gleich aufgeteilt haben, tun das nur noch rund 62 Prozent auch während der Krise". Es gibt zurzeit nicht nur richtig viele verzweifelte Frauen und Mütter, es gibt auch richtig viele wütende. Wer davon ausgeht, dass es mit dem Kampf um Gleichberechtigung jetzt schlecht aussieht, unterschätzt, was Feminismus bedeutet: ein Aufbegehren gegen Ungerechtigkeiten - warum sollte das schwächer werden, wenn die Ungerechtigkeiten deutlicher werden?
Wer sich seiner Wichtigkeit bewusst wird, wird sich seiner Macht bewusst. Und bei aller Verzweiflung über die aktuell riesigen Lasten für Frauen ist auch denkbar und gar nicht mal so unwahrscheinlich, dass sie aus dem Bewusstsein, wie relevant sie sind, ein neues Selbstwertgefühl und damit eine verschärfte Kampffähigkeit schöpfen.
Was ich damit NICHT sagen will, ist a) dass Feminismus nichts Besseres passieren konnte als eine Pandemie oder b) dass es vielen Frauen zwar gerade nicht gut geht, dem Feminismus aber umso besser. Was ich sagen will: Jetzt erkennen endlich viele, dass diese Gesellschaft komplett abhängig von der Arbeit ist, die Frauen (und MigrantInnen, übrigens) leisten – und bisher oft unbezahlt oder sehr schlecht bezahlt.
Das sind gute Voraussetzungen für noch stärkere Forderungen nach besserer Bezahlung, besseren Kinderbetreuungsmöglichkeiten, nach besserem Gewaltschutz, und endlich mal nach einer Abschaffung des Ehegattensplittings, das die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern mit aufrechterhält. (Wenn sie mich fragen: Ich würde, wo wir gerade beim Geld sind, direkt Scheidungsprämien einführen für Frauen, die jetzt merken, dass sie den ganzen Laden eh allein schmeißen.) Nur so als Vorschlag für Forderungen zum anstehenden Muttertag.
Soraya Chemaly hat in ihrem Buch "Rage becomes her. The power of women's anger" ein ganzes Kapitel über "mother rage" geschrieben, über die Wut von Müttern: Einerseits glorifizieren praktisch alle Gesellschaften Mutterschaft, andererseits sind die Bedingungen, unter denen Frauen Kinder bekommen und versorgen, oft sehr schlecht – und die Klagen über diese Bedingungen werden oft tabuisiert.
Die große Herausforderung sei, so schreibt Chemaly, die damit verknüpfte Wut und die Schuld- und Schamgefühle umzuleiten in eine neue Kultur, in der nicht nur die Begriffe "Frau" und "Mutter", sondern auch die Begriffe "Mutter" und "Aufopferung" nicht mehr synonym verwendet werden. Das Buch erscheint im Mai auf Deutsch, es dürfte auf recht fruchtbaren Boden fallen.
Nun wäre es vielleicht etwas viel erwartet, all die von der Pandemie besonders Benachteiligten würden jetzt neben Homeoffice und Homeschooling auch noch einen Home-Riot anzetteln. Auch eine Revolution muss man sich in gewisser Hinsicht leisten können, weil man dafür Ressourcen braucht. Aber die Wut über ungerechte Zustände ist eine nicht zu unterschätzende Kraft. "Was ich will, ist Kraft", schrieb Susan Sontag in ihren Tagebüchern. "Nicht die Kraft durchzuhalten, die habe ich, und sie hat mich geschwächt – sondern die Kraft zu handeln."
Diese Kraft zu handeln dürfte umso größer sein, je mehr sich die Beteiligten bewusst sind, dass sehr viele andere in einer ähnlichen Situation sind. Teresa Bücker zitiert in ihrem sehr lesenswerten Text über die Radikalität weiblicher Wut Audre Lorde: "Ausgesprochene und in Handlung umgesetzte Wut im Sinne unserer Visionen und unserer Zukunft ist ein befreiender und stärkender Akt der Klärung." Und zu klären gibt es gerade verdammt viel.