Jochen Schmidt

Geschlossene Gesellschaft Es liegt so eine Schulschwänzer-Stimmung über der Stadt

Jochen Schmidt
Ein Gastbeitrag von Jochen Schmidt
Die Sonne scheint, die Straßen sind fast menschenleer, man hört Tauben gurren, irgendwo übt jemand Geige: Der Schriftsteller Jochen Schmidt findet Gefallen am Zuhausebleiben. Er hat ja auch ein Leben lang dafür geübt.
Zuhause ist der Ort, wo meine Nachbarn Sex haben

Zuhause ist der Ort, wo meine Nachbarn Sex haben

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DAVID GANNON/ AFP

Geschlossene Gesellschaft

Was macht Corona mit dem Leben? In dieser Reihe schreiben Künstler, Autorinnen und Denker über die großen Fragen in der Krise.

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"Geht doch mal raus, die Sonne scheint!", sagten meine Eltern oft zu uns Kindern, als würde unsere Wohnung nur bei schlechtem Wetter funktionieren. Ich ging damals zwar oft "runter", meistens zum Tischtennisspielen oder Fahrradfahren, aber genauso gerne blieb ich zu Hause, wo ich mich sicher fühlte. Dass ich noch einmal von der Kanzlerin in einer Fernsehansprache beschworen werden würde, auch bei strahlendem Sonnenschein um Gottes willen zu Hause zu bleiben, hätte ich mir nie träumen lassen.

Im Nachhinein stellt sich die Frage, warum meine Eltern immer wollten, dass wir rausgehen? Wollten sie die Wohnung einmal für sich haben? Das wäre verständlich gewesen, wir waren ja zu fünft in einer 80-Quadratmeter-Neubauwohnung mit vier Zimmern, was damals schon ein Luxus war, aber man war eben selten allein in einem Raum. An die wenigen Abende, wenn ich doch alleine war, weil meine Geschwister verreist und meine Eltern in der Oper waren, erinnere ich mich besonders intensiv, weil ich jede Minute genoss.

Heute habe ich selbst Kinder und genieße es, wenn sie weg sind, aber eigentlich vermisse ich sie sofort und will, dass sie bald wiederkommen. Es gibt dafür keine Lösung - außer man lebt wie Thomas Mann: ein Arbeitszimmer mit eigenem Bad und die Kinder müssen ganz leise, aber aus der Ferne ihrer Gemächer doch irgendwie zu hören sein, damit man sich beim Dienst an der abendländischen Kultur nicht so einsam fühlt.

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Mein Zuhause, von dem ich auch nachts manchmal träume, ist eigentlich die Wohnung meiner Eltern, in der ich als Kind gewohnt habe, und in der inzwischen längst andere wohnen. Das, was ich seitdem mein Zuhause nenne, ist eher eine lebenslange Notlösung, die ich mir selbst nie ausgesucht hätte. Mein Zuhause, das ist der Ort:

  • wo ich den Weg zum Klo im Dunkeln finde,

  • wo keiner für mich sauber macht,

  • wo ich, wenn ich verreise, den Schlüssel zweimal im Schloss drehe, als würde das einen Dieb abschrecken,

  • wo mein Festnetztelefon steht, auf dem nur meine Mutter anruft (wir nennen es "Omifon"),

  • wo meine Mini-Büsten-Sammlung von Diktatoren steht (Stalin als Radiergummi),

  • wo die Urlaubskarten von den Bekannten ankommen (warum schreibt man sich keine von zu Hause?),

  • wo meine Hausschuhe stehen (die nehme ich auf Reisen nicht mit, damit ich mich in der Fremde wirklich fremd fühle),

  • wo die Nachbarn Sex haben,

  • wo ich Strom spare,

  • wo meine Kinder sich geborgen fühlen,

  • wo ich kein Arbeitszimmer versteuern kann, weil ich laut Finanzamt angeblich "gemischtes Wohnen" betreibe, nur weil das Zimmer, in dem ich arbeite, gemütlicher eingerichtet ist als das Büro der Sachbearbeiterin, die es begutachtet hat.

Ich ziehe nicht gerne um, aber ich bin oft neidisch auf fremde Wohnungen, eigentlich schon auf fremde Treppenhäuser. Ich finde es hochinteressant, das Zuhause anderer zu studieren. Es müsste eine Art Stadtführung geben, bei der man an einem Tag durch zehn private Wohnungen gehen und sich alles ansehen kann, das unnachahmliche und künstlich nicht herzustellende Arrangement der Gegenstände, die "Unordnung der Dinge", die vom Leben erzählt. Dieser Treibsand unserer Existenz ist für mich wesentlich interessanter und lehrreicher, als was die meisten Museen oder gar Kunstgalerien zu bieten haben.

Familien hatten einen Familiengeruch

Ich fand schon als Kind bei Kindergeburtstagen die Wohnungen meiner Freunde aufregend - obwohl in unserem Neubaugebiet fast alle Wohnungen gleich geschnitten waren, höchstens einmal spiegelverkehrt, sogar die Möbel waren oft die gleichen, aber alle Wohnungen rochen anders. Familien hatten einen Familiengeruch. Wie gerne würde ich diese Gerüche wieder einmal riechen. Wie es wohl bei mir riecht?

Wenn man als Kind krank war, durfte man zu Hause bleiben, ein seltsames Gefühl, sein Zuhause zu so ungewöhnlichen Tageszeiten zu erleben und das Fernsehprogramm zu erforschen, wegen der Schulpflicht ging einem davon ja immer so viel durch die Lappen. Es wurde nie langweilig, im Schlafanzug die Wohnung zu erkunden, die Schreibtische meiner Eltern, die Abstellkammer, das Badezimmerschränkchen, den Werkzeugkasten, die Schrankschublade mit dem abgebrochenen Griff, die nie geöffnet wurde. Ich kannte jeden Gegenstand. Und rufe sie mir noch heute gerne ins Gedächtnis, wenn ich im Hotel nicht einschlafen kann.

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Schmidt, Jochen

Paargespräche

Verlag: C.H.Beck
Seitenzahl: 95
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Preisabfragezeitpunkt

10.06.2023 23.50 Uhr

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Ich bin zwar (noch) nicht krank, aber ich fühle mich neuerdings manchmal wie damals, als ich krank war: Es liegt so eine Schulschwänzer-Stimmung über der Stadt, vor allem, wenn die Sonne scheint. Die Straßen sind fast menschenleer, es fahren kaum Autos, man hört die Tauben gurren, irgendwo übt jemand Geige. Es fühlt sich wie Sommerferien an, wenn alle meine Freunde verreist waren und ich alleine auf dem leeren Asphaltfußballplatz den Ball hochhalten geübt habe. Aber der Unterschied ist, dass nun niemand von mir verlangen kann, dass ich rausgehen soll, weil die Sonne scheint. Ich darf zu Hause bleiben, so wie ich es mir als Kind gewünscht habe, nur dass ich jetzt der Erwachsene bin. Also:

  • Wir spielen "Schokohexe" ohne Hexe (damit es keine Tränen gibt),

  • wir spielen "Mensch ärgere dich nicht" ohne Rausschmeißen,

  • wir spielen "Memory" (natürlich die Originalausgabe von 1959), und nur die Kinder dürfen das Kaninchen finden. Inzwischen haben schon so viele Karten Knicke und auf der Rückseite Flecken, dass wir kaum noch eine umdrehen müssen, um die Richtige zu erraten,

  • wir hören dabei "Traumzauberbaum" und überspringen das Gespensterlied,

  • wir backen "Virus-Plätzchen",

  • wir suchen immer neue Gründe, die Bohrmaschine und den Akkuschrauber zu benutzen,

  • wir ziehen auf der Fensterbank unsere Pflanzen für den Garten vor, in aus Salatverpackungen gebauten Minigewächshäusern,

  • wir lesen zum fünften Mal "Michel aus Lönneberga" und beneiden ihn um sein Zuhause,

  • wir genießen es, dass die Paketboten nicht mehr bei uns klingeln, weil die Nachbarn endlich mal zu Hause sind. Sonst stehen bei uns ja immer lauter fremde Pakete im Flur, manchmal wochenlang. Manche sind verdächtig schwer, aber manche auch verdächtig leicht,

  • wir lernen wieder, im Sitzen zu essen und nicht im Gehen, auch wenn es sich zunächst seltsam anfühlt. Wir machen uns aber manchmal aus Spaß einen Coffee to go und spazieren damit durch die Zimmer,

  • durch den Wegfall aller Fußballübertragungen stürzt abends über meinem Kopf ein Meer von Zeit zusammen, wir gucken jetzt auf YouTube Garten- und Selbstversorgerkanäle. Anlässlich von Trumps Wahl hatte ich endlich auf Ökostrom umgestellt, seit Corona kompostieren wir auch unseren Biomüll selbst. Ich will gar nicht wissen, welche Katastrophe mich endgültig zum Vegetarier machen wird,

  • normalerweise kaufe ich einmal im Monat 32 Packungen Hafermilch bei dm, das traue ich mich jetzt nicht mehr, weil es wie Hamstern aussehen würde. Man desinfiziert dort jetzt vor jedem Kunden die Einkaufswagengriffe. Ich hoffe, dass das nach Corona beibehalten wird. Man gewöhnt sich so schnell an solche Dinge, wie dass die Bäcker das Brot seit ein paar Jahren mit Plastikhandschuhen anfassen (auf denen sich mehr Keime halten als auf der Haut),

  • ich hatte mich monatelang auf den Berliner Halbmarathon vorbereitet, der abgesagt wurde. Ich trainiere aber weiter, fürs nächste Jahr, wenn ich endlich in der M50 bin und wenigstens dort wieder zu den Jüngsten gehöre. Vor der Touri-Eisdiele muss ich nicht mehr auf die Straße ausweichen, weil der Bürgersteig so schön leer ist. Ich laufe nachts mit Stirnlampe durch die halbe Stadt und freue mich, dass ich sie noch so wenig kenne, Marzahn ist zum Beispiel völlig unterbewertet, ein Gebirgsmassiv aus Wohnungen,

  • ich rufe jeden Abend meine Mutter an, die klagt, dass sie nichts mehr zum Lesen hat und nicht zu Thalia kann, wo sie Bücher kauft, "um den Buchhandel zu unterstützen". Sie war nur einmal Zeitung holen an der Tankstelle und hat zur Tarnung einen Einkaufstrolley mitgenommen, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte, dass sie als Rentner die Wohnung verließ. Sie liest jetzt zum zweiten Mal "Jahrmarkt der Eitelkeit" und fragt sich, warum sie das Buch vor 60 Jahren so langweilig fand.

Es gab eine Periode in meinem Leben, als ich es abends, vor allem an Wochenenden, zu Hause nicht ausgehalten habe. Ich hatte das Gefühl, mein Leben zu verpassen. Viel erlebt habe ich draußen aber nicht. Meistens fand ich nicht mal einen Platz, wo ich alleine sitzen konnte, ohne mir komisch vorzukommen. Zum Glück ist das vorbei, es gibt jetzt nichts Schöneres für mich, als an solchen Abenden zu Hause zu bleiben. Die Kinder schlafen, ich trinke ein Glas Wein, esse einen Apfel, lese die neue Ausgabe vom "Gartenfreund" oder mache mit Babbel ein paar Lektionen Türkisch. Ich müsste noch sehr lange, vielleicht sogar für immer in Quarantäne bleiben, um alle Bücher zu lesen, die ich besitze, und alle Sprachen zu lernen, die mich interessieren. Gut, dass ich mein Leben lang zu Hause bleiben geübt habe, endlich sind diese Fähigkeiten einmal gefragt.

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