
Coronavirus Lebe so, dass die Alten überleben


Ältere Menschen sind von Covid-19 besonders bedroht, lasst sie uns schützen
Foto:Getty Images
Die gesamtgesellschaftliche Aufgabe während der Ausbreitung von Covid-19 muss ein altenfreundlicher, kategorischer Imperativ sein: Lebe so, dass die Ältesten in deiner Umgebung durch deine Handlungen nicht fahrlässig in Gefahr gebracht werden.
Am Dienstag erklärte Prof. Dr. Christian Drosten, Leiter der Virologie an der Berliner Charité, in einer der sehr hörenswerten NDR-Info-Podcast-Ausgaben : "Wenn man das nicht ernst nimmt, muss man davon ausgehen, dass Raten, die sich im Bereich von 20 Prozent, 25 Prozent dieser Personen bewegen, sterben werden. Da schluckt man dann natürlich, das muss man aber vermitteln." (Skript als Pdf )
Diese Sterberate betrifft allein in meinem Haus vier Personen, die zur Risikogruppe zählen: meine Lieblingsnachbarin Frau W., die alle in der Straße beim Namen kennt und immer einen einzigartigen Instinkt für meine festen Freunde hatte; das Ehepaar L., das seit über 55 Jahren verheiratet ist und täglich vor dem Haus händchenhaltend und so vorsichtig spazieren geht, dass man Angst hat, sie würden bei starkem Wind einfach weggeweht werden; und dann wäre da noch Herr G., ganz oben, der besser Gitarre spielt, als er singt, und mich lange für eine Heizungswissenschaftlerin hielt, weil ich bei unserem ersten Aufeinandertreffen das Wort Zeitungswissenschaftlerin vernuschelt habe.
Bei den zwanzig Prozent von Prof. Drosten musste ich schlucken. Und ärgerte mich dann über meine eigene Ignoranz. Unsere dringlichste Herausforderung ist derzeit, den Ausbruch des Coronavirus einzudämmen beziehungsweise die Ausbreitung zu verlangsamen. Nicht für uns selbst - also auch das, klar -, sondern im Dienste der gesamten Gesellschaft: um einerseits unsere medizinische Versorgung zu entlasten und um andererseits die Wahrscheinlichkeit, dass ältere Menschen angesteckt werden, zu reduzieren.
Wir müssen die "Tragik der Allmende" verhindern
Die katastrophale Situation in Italien verdeutlicht, was geschieht, wenn sich die Viruserkrankung zu schnell ausbreitet und medizinische Einrichtungen nicht mehr mithalten können. Die Krankenhäuser können den hochschnellenden Zustrom nicht bewältigen, was zu einer höheren Sterblichkeitsrate führt. Dass wir krank werden, ist statistisch nicht unwahrscheinlich; bestenfalls allerdings erkrankt die Bevölkerung sukzessive. So gewinnen wir Zeit und entlasten die ärztliche Versorgung.
Oder, um es mit einem sozialwissenschaftlichen Modell auszudrücken: Wir müssen die sogenannte Tragik der Allmende verhindern. Das beschreibt folgendes Problem: Eine Ressource, etwa die namensstiftende Allmende, eine für die Gemeinde geöffnete Weide, ist zwar für alle verfügbar, aber begrenzt. Wird sie zu häufig und von zu vielen Menschen beansprucht, wird sie unbrauchbar. Das Gesundheitssystem funktioniert ähnlich wie diese Weide: Durch zu viele Krankheitsfälle kann es nicht mehr alle Kranken versorgen.
Es macht Hoffnung, dass dieses Modell, das vornehmlich der umstrittene Ökologe Garrett Hardin prägte, von der Wirtschaftswissenschaftlerin Elinor Ostrom widerlegt wurde. Ihr zufolge ignorierte Hardin nämlich, was mit Gemeingut in einer echten Gemeinschaft tatsächlich passiert: die Selbstregulierung durch soziale Akteure. Die Nobelpreisträgerin Ostrom unterstellte Menschen - zum Glück - mehr Komplexität und Weitsichtigkeit dabei, allgemeine Interessen und persönliche Vorteile miteinander zu versöhnen. Sie fand heraus, dass sich in den meisten Fällen alle Beteiligten bei der Nutzung von Gemeingütern selbst disziplinieren und ihren Umgang miteinander reflektieren, damit bestenfalls alle von den Mitteln profitieren können.
Eine Probe in Altruismus und Solidarität
Sogar die Ökonomie glaubt also an unsere soziale Umsicht: Wir können gemeinschaftlich die Ressource der medizinischen Versorgung schonen und somit die Schwächsten schützen, wenn wir uns um uns sorgen. Das Coronavirus ist dementsprechend für junge Menschen eine Probe in Altruismus und Solidarität mit den älteren Generationen.
Ich bemühe an dieser Stelle nur ungern den Vergleich zur Klimakrise, aber zu sehr spiegelt sich im Umgang mit Covid-19 die gleiche Kommunikationsdynamik. Nur ist es dieses Mal andersherum: Nun müssen wir zeigen, ob wir selbst das einhalten können, was wir von der älteren Generation in Bezug aufs Klima fordern: Verzicht. Auf Großveranstaltungen, Fußballspiele, Klubbesuche, auf das Reisen - aus Liebe zu den älteren Menschen, aus Solidarität mit den eigenen Nachbarn.
Online wird diese Aufforderung bereits mit #FlattenTheCurve verschlagwortet. Mit dem Hashtag werden Aufrufe markiert, die die exponentielle Verlaufskurve der Virusausbreitung durch Schutzmaßnahmen und Achtsamkeit im öffentlichen Raum abflachen wollen. Je mehr wir die Verbreitung entschleunigen, desto handhabbarer wird sie für unsere medizinische Versorgung, desto flacher wird auch die Kurve. Und umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Ur-Großeltern und Omas und Opas nicht an der Epidemie sterben; ebenso wie die allerbeste Frau W., das zarte Ehepaar L. und Herr G., der mir immer geduldig die Tür aufhält, selbst wenn ich vom Ende der Straße angetrottet komme.
Am 31. Dezember 2019 wandte sich China erstmals an die Weltgesundheitsorganisation (WHO). In der Millionenstadt Wuhan häuften sich Fälle einer rätselhaften Lungenentzündung. Mittlerweile sind mehr als 180 Millionen Menschen weltweit nachweislich erkrankt, die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Auf dieser Seite finden Sie einen Überblick über alle SPIEGEL-Artikel zum Thema.
Angela Merkel empfahl gestern in der Bundespressekonferenz, anstelle von Händeschütteln zur Begrüßung den Mitmenschen einfach mal länger in die Augen zu schauen. Die Temperatur im Saal stieg sofort um drei Grad. Vielleicht sollte dies auch Leitmotiv unseres Umgangs mit dieser Pandemie sein: Die Gelegenheit nutzen, um unsere sozialen Beziehungen zu stärken, unsere Familie und Gesundheit in den Mittelpunkt zu stellen; um grundsätzlich zu reflektieren, was wir überhaupt für ein gelingendes Leben brauchen und ob unser von Leistungsdogma und strengem Anwesenheitspflichtbewusstsein geprägter Arbeitsethos noch zeitgemäß ist.
Auch wenn es nun bestimmte Risikogruppen gibt, dürfen wir diese nicht sozial isolieren, sondern müssen umso mehr unsere Empathie und unsere Solidarität zu diesen bekunden. Denn ältere Mitbürger werden von dem Virus gleich zweifach bedroht, gesundheitlich wie emotional. Bei einer selbst verordneten Quarantäne und dem medizinisch leider notwendigen Ausbleiben der Enkelbesuche kann die Einsamkeit das Herz ebenso elend fühlen lassen wie eine Erkrankung den Körper.
Wir alle können dazu beitragen, dass sich Seniorinnen und Senioren weniger isoliert fühlen: Bitte halten Sie noch viel mehr Kontakt mit älteren Verwandten und Nachbarn, übernehmen Sie Einkäufe, Behörden- und Postgänge, skypen Sie mehr, schreiben Sie Briefe, nutzen Sie die Gelegenheit, ihnen zu erklären, wie man Dinge auch online erledigen kann. Zeigen sie ihnen Tiktok. Kompensieren Sie das ausbleibende Sozialleben. Und am allerwichtigsten: Vermitteln Sie ihnen die Ernsthaftigkeit der Situation, auch wenn sie auf Unverständnis oder sogar Widerstand stoßen sollten. Schauen Sie ihnen dann lange in die Augen und erklären Sie liebevoll: "Ich möchte einfach nicht, dass du stirbst."