Sibylle Berg

Alltag mit Corona Dauernder Sonntag

Sibylle Berg
Eine Kolumne von Sibylle Berg
Vor Corona galt: Wir planten, also waren wir. Jetzt herrschen Unklarheit und Langeweile. Ein Gedanke aber hilft: In dieser liebenswerten Hilflosigkeit sind wir alle vereint.
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iStockphoto/ Getty Images

Guten Morgen Frau Doktor, mir ist langweilig.

Und ich schäme mich dafür, denn ich reflektiere mich immerhin so weit, dass ich weiß, dass ich mich weder im Krieg befinde noch krank bin noch auf der Flucht, sondern dass ich in einem sehr reichen Land lebe, mit relativ besonnenen Leuten um mich herum, dass es mir verdammt nochmal so gut geht, dass es peinlich ist, über irgendwelche Befindlichkeiten zu sprechen, in einer Zeit, in der so viele stark sind oder so tun.

Es ist einfach ungewohnt, wenn das Belohnungssystem, ohne das der Kapitalismus nicht funktioniert, pausiert. Das heißt, wir arbeiten weiter - aber ohne im Anschluss konsumieren zu können. Und das bedeutet ein wenig: Wir Privilegierten, die jetzt gerade nicht für das Allgemeinwohl tätig sind, bekommen keine Bestätigung unseres Seins. Zurückgeworfen auf uns tun sich erstaunliche Lücken in unserem Selbstwertgefühl auf.

So sehr auch viele zu laut betonen, dass sie dankbar für dieses Innehalten sind, für das gute Buch (Verwandter des "scheiß Buchs") für die Einkehr nach innen, die Meditation, das gemeinsame Singen auf dem Balkon, das Betrachten von arbeitenden Menschen in Krankenhäusern am Fernseher, das Resümee des Lebens. Alles in Ordnung. Aber. Es ist langweilig.

Eine Zäsur der Planlosigkeit in der Zeit des Planungswahns

Und seltsam ist es, der Zeit beim Vergehen zuzusehen, zu realisieren, wie schnell das Leben vorbei ist, ein Gefühl wie im Osten, falls Sie da jemals waren, oder wie in Dörfern, als Jugendliche. Ein dauernder Sonntag, keine Farben, keine Ablenkung, kein Glitzer, und vor allem keine Optionen zum Träumen.

Das macht die Begierde nur stärker. Nach Italien im Sommer, dem Meer, nach Restaurants, nach dem, was die meisten im Westen unter Normalität verstehen. Dürfen.

Eine Zäsur der Planlosigkeit in der Zeit des Planungswahns in der bereits Schüler ihren Karriereplan erstellen, den Businessplan ihres Lebens. In der Menschen Diätpläne ausarbeiten, die Selbstoptimierung das Motto des Jahrzehnts war für alle, die nicht auf der Verliererseite stehen wollten. Oder liegen. Der planende Mensch war schon vor der Seuche mit dem schwindenden Wohlstand konfrontiert, mit der Ungültigkeit der Regel, dass die kommende Generation es besser haben sollte, aber.

Wo will ich in zehn Jahren stehen? Eine der meist gestellten Fragen, und die Antworten immer so überraschend. Fast alle Endzwanziger sahen sich in zehn Jahren in Kleinfamilien mit Kleinhunden und Kleinkrediten. Andere sahen sich als glückliche Rentner an der Costa del Sol. Planung gibt dem Menschen das Gefühl, sein Leben in der Hand zu haben, es zu beherrschen und damit dem Tod zu trotzen. Vorsprung durch geschickte Kalkulation. Wir planten, also waren wir.

Und jetzt sitzen wir da.

Das erstaunlichste aller möglichen Horrorszenarien ist eingetreten. Wir sind machtlos, planlos. Hilflos (was der Einzelne fast immer war, aber so genau wollte man es doch nicht wissen).

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Und wir müssen uns eingestehen, keine Ahnung zu haben. Noch nicht einmal interessante Verschwörungstheorien fallen einem ein, die Chemtraildeppen schweigen, die Impfgegner sind verstummt, und die Geschichten von CIA und chinesischen Geheimdiensten, die sich Fledermäuse angeeignet haben, sind so verworren und unerheblich, dass selbst der härteste Klugscheißer sich in ihnen verheddert.

Ich will nicht tun, als wüsste ich irgendetwas. Außer, dass ich schon immer an die Wissenschaft glaubte. Und dass ich hoffe, dass sich die Popularität, die sie gerade erfährt, nicht verflüchtigt.

Auf mehr hoffe ich nicht. Nicht darauf, dass diese weltweite Krise alles zum Besseren ändern wird, die Faschisten wieder in ihre Keller verschwinden, Staaten ihr Gesundheitswesen aufmöbeln und Dienstleistende besser bezahlen, ich glaube nicht, dass die Menschen solidarisch bleiben, ihr Leben genießen im Anschluss und solidarisch mit jenen bleiben werden, denen es nicht gut geht.

Ich bin nicht optimistisch, sondern warte. Voller Anteilnahme und mit dünnen Nerven.

Und mit Tränen beim Anblick von Krankenhäusern überall auf der Welt. Beim Anblick der Einsamen, der Kranken, der Obdachlosen, der Verzweifelten, der Überdrehten, der Helfenden und Leidenden, und eines ist so klar: Wir sind eine Gemeinschaft von liebenswerten Hilflosen, Teil von Milliarden, und das zu spüren ist das wirklich Schöne inmitten der Unklarheit.

Und vielleicht erinnern wir uns später, wenn wir wieder Pläne machen, ab und zu an diese Zeit, in der wir realisiert haben, was wir wirklich sind.

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