Der Text ist eine aktualisierte Fassung der Titelgeschichte aus SPIEGEL 22/2014.
In den bayerischen Alpen, abseits der Schlachtfelder Europas, versprach der 6. Juni 1944 ein schöner Frühlingstag zu werden. Adolf Hitler hatte erst in den frühen Morgenstunden ins Bett gefunden, nach einem langen Abend vor dem Kamin, an dem man im kleinen Kreis zunächst die Probleme des Kinos und dann die der Welt erörtert hatte.
Der "Führer" schlief, als im Berghof auf dem Obersalzberg die ersten Meldungen eingingen, dass die Alliierten zum Sprung über den Kanal angesetzt hatten. Er schlief, als die deutschen Gefechtsstände in der Normandie überrannt wurden. Und er schlief auch noch, als die mit der Verteidigung des Atlantikwalls betrauten Kommandeure verzweifelt um die Freigabe der bei Paris stationierten Panzerreserven baten.
Sein persönlicher Adjutant Otto Günsche hat später angegeben, Hitler habe um acht Uhr in der Halle der Residenz gestanden und seinen Generälen Weisungen erteilt. Aber das war Teil der über den Tod hinaus gehenden Arbeit am Mythos. Tatsächlich war es wohl eher nach zehn Uhr, als einer der Lakaien endlich an der Tür des Schlafzimmers klopfte, um den Oberbefehlshaber der deutschen Wehrmacht über den Beginn der Invasion an den französischen Stränden in Kenntnis zu setzen.
So begann das letzte Kapitel im Kampf um die Freiheit Europas: in seinem Domizil in den Bergen ein Diktator im Schlafrock, den seine Entourage nicht zu wecken wagte, während 1200 Kilometer entfernt fast 3,5 Millionen amerikanische und britische Soldaten im Begriff waren, seine Herrschaft zu beenden.
Als Hitler von der erfolgreichen Landung erfuhr, soll er übrigens bester Laune gewesen sein. "Die Nachrichten könnten gar nicht besser sein", rief er begeistert aus. "Solange sie in England waren, konnten wir sie nicht fassen. Jetzt haben wir sie endlich dort, wo wir sie schlagen können."
Zum 75. Mal jährt sich der Jahrestag der bedeutendsten Landungsoperation in der Geschichte des modernen Krieges. Es gibt nicht mehr viele Soldaten, die erzählen können, wie es war, als die Landungsboote an Omaha- oder Juno-Beach ihre Klappen öffneten, um ihre menschliche Fracht in ein Chaos aus Blut, Wasser und Blei zu entlassen. Von den 155 000 Soldaten, die am ersten Tag der Invasion an Land gingen, waren um Mitternacht bereits 10.000 tot, verwundet oder gefangen.
Kaum ein kriegerisches Großereignis hat in der angelsächsischen Welt eine solche Erinnerungskultur begründet wie der Tag, an dem die Truppen des Westens in Frankreich auf die Deutschen stießen. Es war nicht der erste Versuch, auf dem Kontinent wieder Fuß zu fassen: Im Juli 1943 waren die Angloamerikaner in Sizilien gelandet, im September dann auf dem italienischen Festland bei Salerno, um von dort nach Norden vorzustoßen. Aber erst mit der Landung in der Normandie war die zweite Front eröffnet, die der deutsche Generalstab immer gefürchtet und Hitler in seiner Vermessenheit herbeigesehnt hatte.
Vor allem in den Vereinigten Staaten, ohne deren Hilfe es nie zu dieser Operationgekommen wäre, nimmt der D-Day in der nationalen Selbstvergewisserung einen zentralen Platz ein. In unzähligen Büchern ist festgehalten, wie die Angehörigen der Invasionsstreitmacht erst die Strände bei St. Laurent und Varreville einnahmen und dann das Nazi-Reich. Mehrere Monumentalfilme haben den Verlauf des Feldzugs in Bilder gegossen, angefangen mit dem 178-Minuten-Werk "Der längste Tag" von 1962, das so gewaltig geriet, dass man drei Regisseure parallel beschäftigen musste.
Jede Generation hat seitdem die Heldentaten, mit denen sich ihre Väter und Großväter unsterblich machten, cineastisch nacherlebt. Für die Babyboomer inszenierte Steven Spielberg in "Saving Private Ryan" die Szenen der Landung so realistisch, dass die Zuschauer bei den Salven aus den deutschen Maschinengewehrnestern unwillkürlich den Kopf einzogen. Die Xbox-Generation verfolgte in "Band of Brothers" die Erzählung vom Sieg der GIs über die teutonischen Weltenvernichter gleich als Mehrteiler.
Militärisch gesehen ist der D-Day für die Sieger im Westen mehr als nur ein Sieg, er ist der Sieg schlechthin. Wo immer die USA später eingriffen, ob in Korea, Vietnam oder im Irak, stand der Erfolg auf den Schlachtfeldern in Frankreich und Deutschland Pate. In dem Geist, der die US-Soldaten "nach Europa führte, habt ihr den Irak befreit", erklärte Präsident George W. Bush im März 2004 vor Soldaten der 101. Luftlandedivision, die schon im Juni 1944 dabei gewesen war.
Tatsächlich markiert der D-Day den letzten wahren Sieg Amerikas - vielleicht fallen die Erinnerungsfeiern auch deshalb so glänzend aus. Was danach kam, waren als Feldzüge getarnte Polizeiaktionen, Scheinsiege oder aber Niederlagen. Schon im ersten großen Konflikt der Nachkriegszeit, in Korea, erreichte die USA nur ein mühsames Remis. Das Ergebnis nach blutigem Kampf war eine Rückkehr zum Status quo. Die Grenze zum kommunistischen Norden, der den Kriegseinsatz durch die Invasion des nicht kommunistischen Südens erzwungen hatte, verlief wieder dort, wo sie schon vor Ausbruch der Kriegshandlungen verlaufen war: am 38. Breitengrad, ziemlich genau in der Mitte des Landes.