STOCKHOLM Dame über alles
Sie ist die Größte. Ihr rechter Arm birgt ein Kino. In ihrer Brust können Familien Cola trinken. Länge der Dame, über alles: 27 Meter. Oberweite: 24 Meter.
Das Kolossal-Weib, Gemeinschaftswerk dreier prominenter Pop-Art-Künstler, ist das derzeit attraktivste Ausstellungsstück in Stockholms Museum für Moderne Künste. Seit Beginn dieses Monats drängen sich alltäglich rund 1800 Besucher zwischen den einladend gebreiteten Schenkeln (Durchmesser: 3,5 Meter) der großen Liegenden. Der Kritiker der »Dagens Nyheter« nannte sie »ein einzigartiges und tief poetisches Werk«, ihre Erbauer betrachten sie als eine »Mischung zwischen Happening und mechanischem Theater«. Name des Kunstwerks: »Sie«.
Urheber des kuriosen Schaustücks sind die französische Bildhauerin Niki de Saint Phalle, 36, der Schweizer Maschinen-Künstler Jean Tinguely, 41, und der Finne Per-Olaf Ultvedt, 39.
Anfang April dieses Jahres begann das Dreier-Team mit den Bauarbeiten. Insgesamt sechs Tonnen Stahlrohr, Drahtgeflecht, Gips, Leinwand, Klebstoff und Farbe wurden verbraucht. Ingenieure, Statiker und Elektriker erteilten Ratschläge. Zehn handwerklich befähigte Assistenten gingen den Künstlern zur Hand, bis das in Zeppelin-Bauweise gefertigte Kunstwerk nach 40 Tagen im Eingangssaal des Museums fertig daniederlag.
Mehr Sorgfalt noch als auf die äußere Form- und Farbgebung - hellgrüne, gelbe und blaue, schockrosa, rote und schwarzweiße Op-Art-Ornamente zieren die Leinwandhaut des Fabelwesens - verwendeten die Künstler auf den Innenausbau. Ebenso unterhaltsam wie symbolträchtig geht es im Innern der Skulptur zu: Manche Betrachter fühlen sich an Jahr- und Supermärkte, andere an eine urzeitliche Fruchtbarkeitsgöttin erinnert.
Eine Verkehrsampel regelt im mit weichen -Teppichen belegten Eingang den Zustrom der Besucher (jeweils 150 haben Platz). Erster Blickfang: ein beleuchtetes Aquarium mit Goldfischen und das versilberte Schaufelrad einer Wassermühle. Schmale Treppen führen sodann in die verschiedenen Stockwerke des Kunst-Körpers.
Im linken Oberschenkel wurde eine Rutschbahn für Kinder installiert, das rechte Bein birgt eine zweisitzige Liebeslaube, die Ausblick auf eine Gemäldegalerie im Fuß gewährt. Die Liebenden wissen nicht, daß ihr Geflüster von verborgenen Mikrophonen zur Coca-Cola-Bar übertragen wird, die sich in der rechten Brust befindet.
Während im rechten Arm jeweils zwölf Besucher dem flimmernden Greta-Garbo-Stummfilm »Peter, der Landstreicher« (Drehjahr: 1922) folgen, betrachten andere ein kompliziertes Maschinenwerk, das Tinguely entwarf und im Verdauungstrakt placierte: Es dient dem Zermalmen leerer Cola-Flaschen.
Orgelmusik von Bach durchströmt das Gehäuse, während die Kunstfreunde im hoch aufgewölbten Bauch emporstreben und - durch den, Nabel - ins Freie treten: Dort befindet sich die »Blaue Veranda«, von wo aus man, wie Niki de Saint Phalle versichert, »einen wunderschönen Blick über die ganze Frau hat«. Außerdem birgt die Skulptur ein Planetarium, eine Telephonzelle, einen Früchteautomaten sowie - an Stelle des Herzens - die bewegliche, schwarzweiße Plastik »Mann im Stuhl« des Finnen Ultvedt.
»Was für ein fröhliches Haus!« freuen sich die Kinder, und auch die Erwachsenen scheinen sich, wie Niki de Saint Phalle berichtet, »nach anfänglichem Zögern darin wohlzufühlen«.
Daß jedermann sich in dem Kunst-Weib heimisch fühle, war offenbar (wenn es eins gab) das Programm der drei »Sie«-Konstrukteure. Erläuterte Maschinenbauer Tinguely das Werk: »Ein bißchen Arche Noah, etwas Gullivers Reisen und ein Stück Turmbau zu Babel. Aber es ist auch wie in einem Flugzeug, wie in einer Fabrik oder in einer Kirche.«
Happening-Skulptur »Sie": Einlaß bei Grün