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Artikel 30 / 66

JASPERS Darf träumen

aus DER SPIEGEL 50/1960

Adenauer und Brandt als Kanzler

und Vizekanzler«, philosophiert der Philosoph, »würden zusammen die Kontinuität der großen Politik sichern. Endlos sind die möglichen Erwägungen der Details. Politisch entscheidend ist, ob die außenpolitisch bewährten Persönlichkeiten den Vorrang vor den Parteiinteressen gewinnen, ob Adenauer und

Brandt offen oder verborgen zu Bundesgenossen - auch gegen ihre Parteien - werden.«

Und: »Adenauer und Brandt in derselben Regierung, das könnte nicht nur die Stabilität der Außenpolitik, die unser Dasein begründen oder vernichten wird, zur Folge haben, sondern ein Reinigen der deutschen Politik überhaupt.«

Diese und ähnliche, ebenso populäre wie wirklichkeitsferne, Aussagen sichern der jüngsten Publikation des Baseler Existenz-Philosophen Karl Jaspers* den aktuellen Bezug, der voraussichtlich dem Altersprodukt des 77jährigen wenn nicht mehr Leser so doch mehr Zitierungen eintragen wird, als seine wesentlichen Werke, etwa die »Psychologie der Weltanschauungen« (1919) oder »Philosophie« (1932), je erfuhren. - Jaspers (SPIEGEL 36/1960), der es schon 1958 unternahm, auf 500 Druckseiten - »Die Atombombe und die Zukunft der Menschen« - mit der bis dahin abstrakt geförderten »Existenz-Erhellung« einen freilich eher fleißigen denn fruchtbaren Anfang zu machen, trägt heute ohne Hemmung die Früchte seiner Denkarbeit zu Markte: Offenbar beginnt der »schwebende« Philosoph, der einstmals die Wahrheit nur suchte, indem er ihre Möglichkeiten aufzeigte, nun tatsächlich damit, seine Wahrheiten zu artikulieren - wobei sich dann freilich herausstellt, daß es sich um Meinungen handelt.

Äußerer Anlaß seiner jüngsten politisch-philosophischen Stilübung war ein vom Nord- und Westdeutschen Rundfunkverband am 10. August gesendetes Interview, dessen Formulierungen - Jaspers: »Die Forderung der Wiedervereinigung (ist) nicht nur irreal, sondern politisch und philosophisch in der Selbstbesinnung irreal« - etliches Wehgeschrei insbesondere unter jenen Aposteln des »Unteilbaren Deutschland« auslösten, die von des Karl Jaspers Philosophie, ihrer Begriffswelt und ihrer Fragetechnik nicht die mindeste Vorstellung hatten.

Bedeutung und Gefahr der Jaspersschen Wiedervereinigungs-Broschüre liegen denn auch - von dem Interesse abgesehen, das sie für die Biographen eines Philosophen haben mag, der seine Karriere als Psychopathologe begann - keineswegs, in ihren als solche gekennzeichneten Spekulationen, für die er sich selbst nicht ohne Koketterie entschuldigt:

- »Der Philosoph darf die Maßstäbe denken, als ob wirklich würde, was sie utopisch aufstellen. Er darf den lebendigen Staatsmann konstruieren, als ob dieser wirklich vollzöge, was in der Idee seiner Aufgaben und des Wesentlichen seines bisherigen Tuns liegt.

- »Gewiß, das alles ist ein Traum, jeder glaubt zu wissen: das geht nicht; die Menschen sind nicht so. Aber man kann auch wissen: die Menschen haben unvoraussehbare Möglichkeiten in sich.«

Tatsache ist, daß der Philosoph Jaspers zwar dort, wo er erklärt, was geschehen könnte oder sollte, regelmäßig in die utopische Träumerei entschwindet, jedoch bei der Kritik an der politischen Gegenwart durchaus konkret und unverblümt zu Werke geht.

So schreibt Jaspers unbefangen Sätze wie diesen: »Die Wiedervereinigung- ist als Erwartung und Anspruch im Grundgesetz verankert. Kritik an der, Forderung der Wiedervereinigung führt unausweichlich zur Kritik am Grundgesetz. Dann aber wird nicht nur dieser eine Punkt, sondern das Grundgesetz als Ganzes zum Thema.«

Im Eifer, die Wiedervereinigung sowohl als »Erwartung« wie als »Anspruch« gründlich abzulehnen, stellt Jaspers das Grundgesetz selbst in Frage - nur weil er mit dessen Präambel unzufrieden ist, die sich zu Gesamtdeutschland bekennt: »Es (ist) künstlich. Trotz radikaler Unterschiede der Gesamtsituation ist das ... Wesen die Wiederherstellung des parlamentarischen Zustandes vor Hitler. Die Modifikationen sind technisch wichtig... Aber der Geist der volksfremden parlamentarischen Verfassung ist derselbe geblieben.«

Wenn der Philosoph auch darüber schweigt, wie er sich eine volksnahe unparlamentarische Verfassung denkt, so ergibt sich jedenfalls aus dem Rest seiner Auslassungen, daß er beispielsweise die Parteien in ihrer jetzigen Form für unfähig hält, der Bundesrepublik Deutschland zu »einer neuen Staatlichkeit« zu verhelfen.

Jaspers: »Die durch das Schicksal kompromittierten Politiker der Weimarer Zeit konnten nun wieder mit dem geistig heute so arm gewordenen Parteiwesen das politische Treiben fortsetzen...«

Scheinbar wahllos trägt der Denker - »an der Wahrhaftigkeit in der Politik liegt es, ob die Menschheit fortbestehen wird« - 'alles zusammen, was ihm an Mißständen in der-Bundesrepublik aufgefallen ist.

Das längstgesagte Richtige - »Der Name 'Kuratorium Unteilbares Deutschland' ist eine ständige ... internationale Provokation« - ebenso wie das neue aber hoffnungslos Verzerrte - »Das ... Grundgesetz (ist) zweideutig« - dient ihm gleichermaßen dazu, seine politische und durchaus unphilosophische Doppel-Forderung zu unterbauen, die so zu lesen ist:

- Die Bundesrepublik Deutschland - Jaspers: »Westdeutschland« - sollte sich nicht länger als Provisorium, sondern im Hinblick auf Mitteldeutschland als absolut selbständiger Staat, im Hinblick auf die abendländische Welt jedoch als möglichst rasch und möglichst vollständig zu integrierender Teil verstehen;

- auf die Wiedervereinigung West- und Mitteldeutschlands sollte bewußt verzichtet und statt dessen für die Mitteldeutschen - Jaspers: »Ostdeutschland« - eine relative Freiheit angestrebt werden.

Von diesen beiden Zielen her, deren erstes realisierbar, deren zweites aber in seinem positiven Teil allenfalls Hoffnung ist, interpretiert der Philosoph sodann die gesamte Gegenwart der Bundesrepublik: Die Parteien sind ihm denn auch nicht deshalb so zuwider, weil er in ihnen ein generell unzulängliches Instrument der politischen Willensbildung sieht, sondern weil »an die Stelle einer Neuschöpfung aus der demokratischen Idee ... das Programm der Wiederherstellung der deutschen Einheit (trat)«.

Anders wäre nicht zu erklären, daß Jaspers beispielsweise der amerikanischen Demokratie Anerkennung zollt, während er im deutschen Staatsgetriebe nur den »Geist der ideenlosen, manipulierenden, ratlosen, opportunistischen, sich selbst nicht vertrauenden, von Scheinbarkeit lebenden Demokratie vor 1933« festzustellen vermag.

Der Bundeskanzler Konrad Adenauer - »den ich persönlich nie gesehen habe und dessen Leben ich nicht kenne« - imponiert dem Domizil-Schweizer, weil »sein Grundgedanke ... einfach (ist) und von Anfang an bis heute unerschütterlich: Das Abendland - Europa und Amerika als ein Ganzes - kann sich nur behaupten, wenn es einig ist«.

Umgekehrt kritisiert Jaspers den »abendländischen Staatsmann« Adenauer, weil er die Oppositionspartei nicht so behandelt, »daß sie im Kampf mit ihm und seiner Partei wirklich zu einer Oppositionspartei werden kann, die mit ihm auf dem Boden des gemeinsamen Staates sich entwickeln könnte«.

Würde Adenauer die 'Opposition anders behandeln, so meint nämlich Jaspers offenbar, dann könnte diese ihre unwahrhaftige Haltung zur Wiedervereinigung aufgeben. Was dann wiederum auch der CDU erlaubte, realistischer zu sprechen.

Jaspers: »Wenn heute nicht der radikale Wille zur Klarheit und Entschiedenheit zur Geltung kommt, lösen sich Täuschung und Lüge nicht auf.« Dem Philosophen, der nicht einmal vor derartigen Schlüssen - die Armut kommt von der pauvreté - zurückschreckt, ist im Grunde darum zu tun, um jeden Preis das »Verhängnis des Vorrangs nationalpolitischen Denkens« zu beweisen.

Dazu gehört dann, für ihn folgerichtig, daß das Territorium Bismarcks ebenfalls nicht wiedererstehen darf, da es als Basis solcher Denkungsart mißbraucht werden könnte: »Das nationaldeutsche Bewußtsein politischen Charakters ist aber eine noch immer starke psychologische, zum Massenwahn aufputschbare Realität.«

Immerhin gibt es für Jaspers neben seiner fast pathologischen Sorge, das Bismarck-Reich samt seinen Leitbildern könne in einem geschlossenen Deutschland wiederaufleben, noch ein weiteres Argument gegen die Forderung der Wiedervereinigung, das nicht nur aus Existenz-Erhellung, sondern aus tatsächlichen politischen Beobachtungen gewonnen sein mag: Wenn die Deutschen im Westen die Wiedervereinigung forderten, so stünden sie mit diesem Wunsche in der Welt allein, forderten sie hingegen die Freiheit für Mitteldeutschland ("Ostdeutschland"), so könnten sie für diesen Wunsch auf die Sympathien der westlichen Welt rechnen.

Jaspers: »Territoriale Grenzen sind ein Einzelinteresse, das historisch wandelbar ist, Freiheit ist ein Allgemeininteresse, das die Menschheit angeht. Wenn diese Gedanken unter den Deutschen sich verbreiten, so gelten solche Argumente nicht mehr als die verdrießlichen deutschen Klagen, sondern als berechtigt.«

Nun ist der Begriff »Freiheit« in der Tat während der letzten Jahre in der westlichen Welt derart überhöht worden, daß mit ihm von Athen bis Hawaii ähnliche Affekte auszulösen sind wie mit der Vokabel »Wiedervereinigung« in der Bundesrepublik. Doch des Philosophen Ausflug in die politische Pragmatik führt nicht weit: Er will den Mitteldeutschen nämlich auch keine volle Freiheit geben, die ja automatisch zur Wiedervereinigung führen müßte, sondern nur eine um das Recht auf Wiedervereinigung verkürzte Selbstbestimmung innerhalb oder im Grenzgebiet des marxistischen Blocks.

Sein Argument: »Wiedervereinigung zu einem einmal dagewesenen Territorium ist kein Grundrecht, überhaupt kein Rechtsanspruch.«

Mit solchen Ideen reiht sich der Basler Philosoph schlicht in die Kolonne jener durchaus ehrenwerten Theoretiker ein, die während der letzten zehn Jahre mehr oder minder limitierte Vorschläge zu einem Arrangement mit den Sowjets machten - und dann durch des Philosophen »abendländischen Staatsmann« sowie die Geschichte widerlegt wurden.

Vermutlich hätte sich denn auch niemand erregt, wenn Jaspers das Wiedervereinigungs-Geschwätz, das westdeutsche Versammlungsredner allsonntäglich anstimmen, seinerzeit als unsinnig bezeichnet hätte. Aber der Weise sprach: ... nicht nur irreal, sondern philosophisch und in der Selbstbesinnung irreal.«

Das freilich war unheimlich, weil sich kein Mensch etwas darunter vorstellen konnte. Es war auch sprachlich falsch. Denn: Diese Forderungen nach Wiedervereinigung werden ja erhoben und sind somit real. Sie sind allenfalls unrealistisch.

In Wahrheit sind sie von der Wirklichkeit nicht einmal weiter entfernt als der Verlag Piper, wenn er im Klappentext zu den auf 124 Seiten ausgebreiteten Assoziationen des vielgerühmten Denkers meint: »Die vorliegende Schrift von-Karl Jaspers kann... unter dem Zeichen aufgenommen werden: Die deutsche Demokratie steht vor ihrer ersten und letzten Chance.«

* Karl Jaspers: »Freilheit und Wiedervereinigung - über Aufgaben deutscher Politik«; R. Piper & Co. Verlag, München; 124 Seiten; 6,50 Mark.

Philo-Politiker Jaspers: Brandt als Adenauer-Vize?

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