Das Buch meines Lebens
Es gibt einige Bücher meines Lebens, etwa ein Dutzend, wenn man es großzügig sieht. Alle vier bis fünf Jahre ist so ein Buch in mein Leben geplatzt, alarmierend und betörend, im wahrsten Sinne des Wortes hinreißend, was ja immer bedeutet: dass man empfänglich ist, wie für eine längere, reale Liebe.
Und in einem Fall reichte dafür eine ganz kurze, fiktive Liebesgeschichte, die von Verlangen, Verrat und Tod vor dem Hintergrund des italienischen Befreiungskrieges gegen Österreich erzählt, veröffentlicht 1883, nämlich die Novelle »Senso« von Camillo Boito oder, wie der Untertitel lautet: »Das geheime Tagebuch der Contessa Livia« - und es war dieser Zusatz in Verbindung mit dem männlichen Autorennamen, der mich neugierig gemacht hatte. Ob und wie Männer sich in Frauen einfühlen können, interessierte mich in dieser Phase meines Lebens besonders.
Schon nach drei Seiten war es entschieden: Die Contessa Livia würde fortan zu meiner literarischen Verwandtschaft ersten Grades zählen. Warum?
Da ist eine 39-jährige, immer noch schöne Frau, die auf ihre einzige, schrecklich gescheiterte Liebe vor 16 Jahren zurückblickt: »Und stets suche und reize ich die Risse der unverheilten Wunde.«
Diese Wunde ist der Leutnant Remigio, der bekannt dafür ist, dass er Duellen aus dem Weg geht - »stark, schön, pervers, feig - er gefiel mir«. Eigentlich hat sie ihn gleich durchschaut, aber das hilft ihr nichts, sie will einfach lieben. Sie reist ihm per Kutsche nach. In Verona trifft sie ihn mit einer Hure an und muss hören, wie er seine reiche Contessa verhöhnt. Ihre Liebe schlägt in Raserei um, und der Hass trifft sie am Ende selbst: Livia zeigt Remigio als Deserteur an und wird Zeugin seiner Hinrichtung, die ihrer eigenen im Leben gleichkommt.
Und all das erzählt Boito auf gut 60 Seiten. Was könnte besser ins Schwarze oder Dunkle (auch das eigene) treffen als eine kleine Geschichte, nicht großspurig, sondern pfeilartig und abgründig?
Kirchhoff ("Infanta"), 59, lebt als Schriftsteller in Frankfurt am Main.