Theater »Das Ensemble ist mißvergnügt«
SPIEGEL: Herr Stein, herrscht nun Hochstimmung am Halleschen Ufer?
STEIN: Nein, eher das Gegenteil ist der Fall. Denn es ist ja nicht unbedingt das Presse-Echo, das uns bei der Arbeit interessiert. Aber daß während der eigentlich noch zu kurzen zehn Proben-Wochen viele unserer gemeinsamen Gespräche und Auseinandersetzungen dem Premierentermin geopfert werden mußten, hat im Ensemble Mißbehagen ausgelöst.
SPIEGEL: Also Katzenjammer anstelle durchaus angebrachter Euphorie?
STEIN: Na ja, wir waren schon ungeheuer stolz, daß wir rechtzeitig fertig geworden sind. Außerdem haben wir, ohne auf eine ganz klare inhaltliche Definition zu verzichten, eine gewisse spielerische Leichtigkeit geschafft -- eine Produktion, bei der erstmals alle Beteiligten gemeinsam fabelhaft funktioniert haben.
SPIEGEL: Dennoch können Sie kaum verhindern, daß man Ihnen den Ruhm an diesen beiden Theater-Abenden allein zuschreibt.
STEIN: Ja, das ist klar, und manche der Kollegen sehen das auch gar nicht so gern. Mit Recht; denn auf weite Strecken ist das, was auf der Bühne zu sehen ist, von den Schauspielern selber. Ich könnte Ihnen Stellen nennen, an denen ich faktisch gar nicht probiert. sondern nur zugeguckt habe. An anderen Stellen wiederum ist natürlich sehr präzis gedreht worden.
SPIEGEL: Aber es ist wohl Ihr Verdienst, daß sich das Ensemble mit dem vergleichsweise romantischen »Faust« -- Abklatsch aus dem vorigen Jahrhundert mit solcher Verve befaßt hat.
STEIN: Vielleicht. Ursprünglich hat unser Dramaturg Dieter Sturm das Stück für die Schaubühne entdeckt, Botho Strauß hat es bearbeitet, und nachdem wir darüber diskutiert hatten, wollten wir es unbedingt machen.
SPIEGEL: Aber warum ausgerechnet dieses mit trivialer Bürger-Ideologie überladene »dramatische Gedicht«?
STEIN: Ibsen hat ja die Trivialmythen des 19. Jahrhunderts keineswegs für seinen »Peer Gynt« erfunden: er hat sie vielmehr zitiert und kritisch reflektiert. Und abgesehen davon, daß es ein fulminantes Stück ist, hat uns gerade dieser herrliche Skeptizismus begeistert. der beinahe jede Zeile grundiert.
SPIEGEL: Und Ibsens Verfahren des Zitierens und Reflektierens haben Sie nun mi 20. Jahrhundert auf sein Schauspiel angewandt.
STEIN: Wir haben den Versuch gemacht. möglichst viel von Ibsen selber und der damaligen Bildwelt in die Inszenierung aufzunehmen und zur kritischen Betrachtung auszustellen. Wir haben Hunderte von zeitgenössischen Wälzern, die Laterna magica meiner Großmutter und die »Gartenlauben«-Bilder ins Theater geholt und uns dabei bewußt gemacht, daß selbst unsere Kindheit von solchen Leitbildern bestimmt war.
SPIEGEL: Nostalgie auch in der Schaubühne am Halleschen Ufer?
STEIN: Nostalgie -- absoluter Blöd sinn. Das Bewußtmachen von ganz bestimmter frühkindlicher Erinnerung ist ein notwendiger analytischer Prozeß.
SPIEGEL: Auf die Analyse folgte eine so erfolgreiche Aufführung, daß nun wohl feststehen dürfte. daß die Schaubühne auch noch nach 1972 mit Hilfe des Berliner Senats weiter experimentieren kann.
STEIN: Unsere »Peer Gynt«-Produktion hat die Leistungsfähigkeit der Schaubühne wohl auch im Verkaufssinne klar dokumentiert und dürfte dem Senat die Möglichkeit geben zu beurteilen. ob er das Experiment weiterhin in Kauf nehmen will. Eine Entscheidung darüber ist mir noch für diesen Monat zugesagt worden -- angesichts notwendiger Planungen so ziemlich der äußerste Termin. Das letzte Wort allerdings hätte das Ensemble zu sprechen, mit dem diese Frage jetzt, nachdem der Proben-Streß gewichen ist, diskutiert werden soll.
SPIEGEL: Rechnen Sie da ernsthaft mit Widerstand?
STEIN: Jedem von uns ist klar, daß es bei den ständigen Preissteigerungen unmöglich ist, über 1972 hinaus zu den jetzigen Bedingungen weiterzuarbeiten.
SPIEGEL: Sie wollen sich nicht ständig unter Ihrem Marktwert zur Verfügung stellen?
STEIN: Es geht nicht um mich, nicht um die Spitzengagen. Ich kriege 2500 Mark und fühle mich keinesfalls unterbezahlt. Aber das Gehaltsgefälle hier im Hause -- ein Techniker beispielsweise bekommt nur 1200 Mark -- ist bei den galoppierenden Preisen und bei dem Arbeitseinsatz, der hier gefordert werden muß, geradezu ein Hohn. Außerdem müssen wir mehr Leute engagieren -- Techniker und Verwaltungskräfte. Schließlich kommt sich jeder Schauspieler, mich eingeschlossen, falsch eingesetzt vor, wenn er statt zu proben auf dem Gerüst stehen und Schrauben festdrehen muß -- wie es vor der »Peer Gynt«-Premiere geschehen ist. Da stimmt die Arbeitsteilung nicht mehr.
SPIEGEL: Gesetzt den Fall, der Senat stimmt Ihren Forderungen zubleibt dann auch Peter Stein über das Jahr 1972 hinaus bei der Schaubühne?
STEIN: Daran zweifeln Sie also.
SPIEGEL: Sie haben sich immerhin noch während der »Peer Gynt«-Proben um die Intendanz der Münchner Kammerspiele beworben -- war das nur ein taktischer Schachzug?
STEIN: Meine Beteiligung an der Münchner Wahl-Farce war ein Fehler -- aber lassen Sie uns bitte nicht über deutsche Stadttheater sprechen.
SPIEGEL: Der heute von der Kritik als begabtester deutscher Regisseur apostrophierte Bewerber Stein wurde nicht einmal zum Hearing der Kandidaten gebeten. Sie bleiben also in Berlin, doch ist nicht der Zeitpunkt abzusehen, an dem Sie zur dominierenden Figur am Halleschen Ufer und damit zur stärksten Belastung des kollektiven Arbeitsprinzips werden?
STEIN: Viele Mitglieder des Kollektivs sehen diese Dominanz schon jetzt und sind sehr unzufrieden damit. Darum wollen wir uns jetzt gemeinsam überlegen, wie eine solche Situation zu überwinden ist.
SPIEGEL: Die Lösung dieses Problems wäre wohl zugleich die Antwort auf die Frage nach der Zukunft des derzeit wichtigsten deutschen Theatermodells.
STEIN: Ich bin jedenfalls bereit, mich aus dem gegenwärtigen Fünferdirektorium zurückzuziehen und nur noch
allein oder mit einem Kollegen -- Regie zu führen; die Verpflichtung von Gastregisseuren und die Entwicklung von Nachwuchsregisseuren im eigenen Hause ist schon beschlossen. Im übrigen wird so ein Theatermodell, das ich nie als solches bezeichnet habe, wohl nie reibungslos funktionieren können. Ich hoffe vielmehr auf einen Prozeß der permanenten Auseinandersetzung. Vor allem bin ich ganz scharf darauf, daß ganz andere, jüngere Leute hierherkommen, eine neue Perspektive liefern und mich eines Tages ersetzen.