AVANTGARDE das fält laicht
Wer Hintergrund des Saales ist verheißungsvoll durch einen Vorhang abgetrennt. Dennoch wird eine der attraktivsten Darbietungen modernen Kunstfleißes nicht mehr gezeigt. Noch vor drei Jahren hatte der Italiener Piero Manzoni entkleidete Mädchen signiert und als Kunstwerke dem prüfenden Blick der Kenner überlassen.
Im gleichen Jahr hatte er in Mailand und Kopenhagen Eier zum Verzehr angeboten, auf deren Schale der Fingerabdruck des Künstlers zu sehen war. Das Publikum sollte derart »direkten Kontakt mit einem Kunstwerk erhalten«.
In Frankfurt wird jetzt von Manzoni nur eine silberne Chrombüchse gezeigt, die eine von ihm gezeichnete 1120 Meter lange Linie enthalten soll, und ein Büschel Glaswolle, das in einem Rahmen klebt.
Der kürzlich verstorbene Italiener Manzoni ist zusammen mit 46 anderen Künstlern aus sieben Ländern auf der Ausstellung »Europäische Avantgarde«
vertreten, die von der Stadt Frankfurt gemeinsam mit der »Galerie d« im Schwanensaal des traditionsreichen Frankfurter »Römer« veranstaltet wird. Ziel der Schau ist, einen Überblick über die allerneuesten Tendenzen auf dem Gebiet der Bildenden Kunst in Europa zu ermöglichen.
Außer der Bezeichnung »Avantgarde«, laut Katalog als »Ehrentitel« empfunden, verbindet die 47 ausstellenden Künstler kaum ein gemeinsames Programm. Einige von ihnen bekennen sich noch zur Monochromie, also dazu, Bilder nur mit einer Farbe zu malen - prominentester Vertreter der 1962 in Paris verstorbene Yves Klein, genannt Yves le monochrome -, andere halten es mit der Achromie, zu deutsch: Farblosigkeit.
Avantgardist Wolfgang Ludwig, 40, geht von der »Tatsache« aus, »daß Farbe eine konstante Energie ist«; Avantgardist Ed Kiender, 38, hält es inzwischen schon für »illusionistisch«, den »optischen Reiz einer unbemalten Leinwand durch Farbauftrag zu zerstören«. Die Plastikerin Marianne Aue, 29, bekennt: »Was ich zu meinen Arbeiten benötige, ist Schatten«, der Plastiker Hermann Goepfert, 37, fordert »Malen mit Licht«.
Ein angeblich in Reykjavik lebender Künstler, Diter Rot, 33, schlägt vor: etwvs tvn das laicht fält zb aine saite ler lasen.
Sein Kollege, der Wiener Arnulf Rainer, 34, hat dagegen die Technik der »übermalungen« entwickelt; nach seinen Worten muß »der Maler mit Geduld erhorchen und abwarten; bis sich die nächstfolgende zu übermalende Stelle (auf der Leinwand) unangenehm bemerkbar macht«. Nach Rainers Erfahrungen ergibt sich, daß »schließlich alle Punkte ... diesen Wunsch einmal äußern«.
Glücklicherweise ist, was im Frankfurter »Römer« vorgezeigt wird, zum Teil erheblich eindrucksvoller als das Kauderwelsch der von einigen Ausstellern geäußerten Theoreme. Glasplastiken, komplizierte Mobiles, symmetrische Wandreliefs und Produkte sogenannter subjektiver Photographie bieten sogar dekorative und ornamentale Effekte.
Es gibt »Lichtdynamos« und technisch präzis konstruierte »Lichtballette«, Plastiken aus Kunststoffen, Vexierspiele aus gebogenen Spiegeln, geometrische Formen hinter gerilltem Glas, deren Konturen sich je nach dem Standort des Betrachters zu verändern scheinen - es gibt überhaupt eine deutliche Hinwendung zu beweglichen Geräten und auf Überraschung zielenden Konstruktionen.
Einige Urheber solcher Mechaniken und gläsernen Plastiken sind sogar an der Ausstattung von (sonst in Kunstdingen eher konservativen) Schulen und von (in Sachen der Kunst fast immer fortschrittlichen) Kirchen beteiligt worden.
Gegenüber diesen ernstlichen Versuchen von Photographen, Plastikern und Malern erweisen sich Manzonis signierte Mädchenrücken und eingetopfte Spiralen ebenso als Albernheit wie die Entdeckung des belgischen Malers Jef Verheyen, 31, der im Rundfunk bekanntgab: »Im Jahre 1959 fand ich die Synthese, abnehmendes Licht ist zunehmendes Dunkel.«
Avantgardist Manzonio
Mädchenrücken handsigniert
* Beim Malen einer kilometerlangen Linie auf Rotationspapier.