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Das familiäre Kopfzerbrechen

aus DER SPIEGEL 11/1972

mit dem großen Einmaleins ist, wie das Wurzelziehen oder das Fahnden nach der Unbekannten x, obsolet geworden. Mütter, die mit Mühe einen Kassenbon entziffern, Väter, die allenfalls mit dem Zollstock klarkommen, sollen jetzt ihren schulpflichtigen Kindern im Umgang mit »kommutativen Gruppen« helfen oder die »Rechenregel der Idempotenz« erläutern. Seit anderthalb Jahrhunderten war der Rechenunterricht kaum reformiert worden. Weltweit müssen nun Eltern und Lehrer nachholen, wozu gerade die Neue Mathematik erst befähigen soll -lernen zu lernen. So rührt das häusliche Elend mit den Schularbeiten von einer Art Generationskonflikt her: Ehedem schien das Fundament eines scheinbar übersichtlichen Lehrgebäudes die Zahl zu sein; neuerdings begreifen schon Grundschüler die Zahlen -- wie Farben und Formen -- als Abstraktion, als »Eigenschaften der zugehörigen Mengen«. Tatsächlich hat sich die Mengenlehre als das umfassendste System erwiesen, mit dem die mathematischen Grundbegriffe untersucht und die Grundlagen der gesamten Arithmetik und Analysis entwickelt werden können. Aber die meisten Pädagogen sind schlecht gerüstet, die Kunstsprache und begriffliche Schärfe der Neuen Mathematik zu vermitteln. Und die Eltern werden getäuscht, wenn es heißt, das Neue sei viel einfacher, anschaulicher als die Rechen-Tradition. Die »Logischen Blöcke« und das bunte Stab-Sortiment der »Farbenzahlen«. mit denen Erstkläßler hantieren, liefern nur die Anfangsgründe -- am Ende wird die Mengenlehre dann doch so unanschaulich wie jedes Logik-System. Selbst Walter Robert Fuchs, Autor von Nachhilfe-Bestsellern über die Neue Mathematik, bekannte auf die selbstgestellte Frage, ob eine Vorstellung von dem Begriff »Menge« zu geben sei: »Man kann es einfach nicht.«

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